Der Volkswille als Selbstbedienungs-Kiosk

Im Natur- und Umweltbereich wurde es in den letzten Jahren schon fast zu einer erschreckenden Gewohnheit, dass Abstimmungsversprechen gebrochen werden. Die Missachtung des Volkswillens schadet nicht nur dem Vertrauen in die Demo­kratie, sondern in vielen Fällen auch der Natur.


Raffael Ayé

09.06.2025, Ornis 3/25

Der Populismus ist weltweit wieder auf dem Vormarsch. Populistinnen und Populisten nehmen für sich in Anspruch, als einzige den Volkswillen zu vertreten. Dabei geht es nur um ihre eigenen, oft einseitigen Ansichten. Es ist richtig und wichtig, den Volkswillen zu respektieren – aber aufgrund von sauberen Analysen und nicht aufgrund von marktschreierischen Parolen.

In der Schweiz wird der Volkswille mittels Volksabstimmung ermittelt. Und regelmässig ergeben sich am Abstimmungssonntag lange Diskussionen darüber, wie das Resultat zu interpretieren sei. Gerade die Exponentinnen und Exponenten der SVP, die ansonsten gerne für sich in Anspruch zu nehmen, besonders nah am Volk zu sein, sind hier teilweise unverfroren.

Nach dem verlorenen Autobahn-Referendum vom letzten November hat Bundesrat Albert Rösti öffentlich angekündigt, zu prüfen, ob die vom Volk abgelehnten Projekte trotzdem vom Parlament grünes Licht für den Bau erhalten sollen. Auch andere Vertreterinnen und Vertreter des Ja-Lagers wollen sich zumindest eine Hintertüre offenlassen und diese Projekte trotz Ablehnung durch das Volk realisieren.

Dieses Muster kommt uns bei BirdLife bekannt vor. Im September 2020 wurde das missratene Jagdgesetz mit 51.9 % Nein-Stimmen abgelehnt. Das Stimmvolk hatte sich damit klar gegen mehr Abschüsse geschützter Tierarten ausgesprochen. Dessen ungeachtet verabschiedete die Parlamentsmehrheit 2022 eine erneute Jagdgesetzrevision, die mehr Wolfsabschüsse ermöglichen sollte – zudem, ohne diese im Sinne eines Kompromisses auszutarieren (siehe Ornis 3/24). Es war eine reine Machtdemonstration vor allem landwirtschaftsnaher Kreise. Dass damit der Volkswille missachtet wurde, kümmerte sie nicht. Damit nicht genug: Der Bundesrat verabschiedete darauf eine Verordnung, die auch beim Biber ein völlig falsches Signal in Richtung mehr Abschüsse sendet (siehe Ornis 1/25). Es ist zu hoffen, dass die Kantone gar keine Abschüsse verfügen werden – die erneute Gleichgültigkeit gegenüber dem Volksverdikt wurde trotzdem offenkundig. Und es geht weiter. Ein Mitte-Politiker und Fischereifreund reichte auch noch einen Vorstoss ein, der mehr Abschüsse von Gänsesägern fordert.

Szenenwechsel. Das Stromgesetz, das auch BirdLife unterstützte, wurde 2024 vom Stimmvolk sehr deutlich angenommen. Konkret wurden 16 Wasserkraftprojekte ins Gesetz geschrieben und ihnen eine besondere nationale Bedeutung zuerkannt. Gleichzeitig wurde im Abstimmungsbüchlein versprochen, dass diese 16 Projekte gesetzeskonform umgesetzt werden und das Verbands­beschwerderecht weiterhin eine unabhängige Überprüfung zulasse. Dieser besonderen nationalen Bedeutung und der Beibehaltung des Verbandsbeschwerderechts hat das Stimmvolks zugestimmt. Energiepolitikerinnen und -politiker vor allem aus Mitte und FDP missbrauchen nun das Abstimmungs­resultat, um den Bruch von Versprechen im Abstimmungsbüchlein zu rechtfertigen. In der Beschleunigungsvorlage wollen sie das Verbandsbeschwerderecht einschränken und schwächen die Ersatz- und Ausgleichsmassnahmen für diese 16 Projekte – falls sie nicht gleich mit einem finanziellen Ablasshandel ersetzt werden (siehe Ornis 2/25).

Wenn ein deutliches Abstimmungsresultat wirklich ein Auftrag wäre, sofort weit über die Vorlage hinauszugehen, dann hätte das Verbandsbeschwerderecht 2008 nach 66 % Zustimmung massiv ausgebaut werden müssen. Das haben BirdLife und andere Naturschutzorganisationen selbstredend nie gefordert. Denn in einer Abstimmungsvorlage geht es um einen spezifischen Gesetzestext und unmittelbar dazugehörende Bestimmungen aus den Ratsprotokollen und dem Abstimmungsbüchlein. Um nichts weiter.

Dass Abstimmungsversprechen gebrochen werden, wurde in den letzten Jahren im Natur- und Umweltbereich schon fast zu einer erschreckenden Gewohnheit. In der Abstimmungs­kampagne zur Biodiversitätsinitiative wurde versprochen, dass der Bund zukünftig weiterhin 600 Millionen für die Biodiversität aufwenden werde. Viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben sich darauf verlassen. Fünf Monate später bricht der Bundesrat im Rahmen der Budgetkürzungen sein Wort und schlägt starke und nicht hinnehmbare Kürzungen vor (siehe Seite 5). Mehrere Versprechen im Zusammenhang mit den beiden Pestizid-Initiativen wurden auch bereits wieder gebrochen – keine vier Jahre später.

Die Missachtung des Volkswillens schadet dem Vertrauen in die Demo­kratie. Und sie schadet in vielen Fällen auch der Natur. Aus beiden Gründen lehnt BirdLife solche Spielchen entschieden ab!

 

Der Geschäftsführer Dr. Raffael Ayé fasst hier die Haltung von BirdLife Schweiz zu politischen Fragen zusammen.

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