Lebensrecht, wo Lebensraum

Jagd- und Schutzgesetz (JSG). Die massiven Wolfsabschüsse während der letzten Jahreswende haben viele Menschen beunruhigt. Wie kam es so weit, was ist die aktuelle Situation und wie geht es weiter mit der neuen Jagdverordnung? BirdLife ordnet die Entwicklungen ein und geht den Grundsatz­fragen zum Umgang mit der Natur, die weit über den Wolf hinausgehen, auf den Grund.


Anfang Februar berichtete der Kanton Graubünden in den Medien, dass er zur neuen Wolfsregulierung ein positives Fazit ziehe. Eine Regulierung ist heute bereits möglich, wenn ein Schaden zwar mit aller Wahrscheinlichkeit droht, aber gar noch nicht eingetroffen ist. Was hat zu dieser Erfolgsmeldung geführt? Es ist die Tatsache, dass 20 Wölfe erlegt wurden. Eine ähnliche Mitteilung ging vom Kanton Wallis mit 27 erlegten Wölfen durch die Presse. Ist es tatsächlich ein Erfolg, wenn möglichst viele Wölfe abgeschossen werden? Das Ziel ist doch eine gute Koexistenz zwischen Wolf und Alp- und Landwirtschaft. Das geschieht primär über einen guten Herdenschutz. Zudem ist die Rolle des Wolfes im Ökosystem sehr wichtig: Seine Präsenz und seine Jagd auf Hirsche tragen zur natürlichen Verjüngung des Schutzwaldes bei (siehe Ornis 1/24). Doch davon steht in den «Erfolgsmeldungen» nichts.
Was die massiven Wolfsabschüsse bewirken, muss sich erst zeigen. Es ist durchaus möglich, dass es im Alpsommer 2024 wieder mehr Wolfsrisse in der Schweiz geben wird. Und zwar deshalb, weil unklar ist, was bei den «regulierten» Rudeln wirklich geschieht. Anscheinend wurden nämlich zum Teil die Elterntiere abgeschossen, nicht aber die Jungtiere. Wie der Bundesrat selber schreibt, geht aber eine besondere Gefahr zum Reissen von Kleinvieh von noch jagdunerfahrenen Jungwölfen aus, deren Eltern erlegt wurden. Und wie rasch werden die Lücken wieder durch Wölfe gefüllt?

Viel weniger Risse dank Herdenschutz


Tatsache ist, dass die Risse vor der Regulierung zum Teil bereits deutlich abgenommen hatten: Gesamtschweizerisch betrug der Rückgang der Risse 40 Prozent, trotz zunehmendem Wolfsbestand. Das ist dem Herdenschutz zu verdanken. Für die nicht einfache Aufgabe muss dem Alppersonal, das seine Tiere engagiert vor schlechtem Wetter, Unfällen, Krankheiten und auch dem Wolf schützt, ein Kranz gewunden werden. Möglich war dieser Rückgang der Risse dank der Förderung des Herdenschutzes durch den Bund, der ein Zuchtprogramm für Herdenschutzhunde führte und die Alpwirtschaft direkt bei ihren Schutzmassnahmen unterstützte. Die Vergangenheitsform ist ganz bewusst gewählt, denn der Bund ist daran, das erfolgreiche Programm zu zerschlagen und alles den Kantonen zu überbürden. Er hat dem Verein Herdenschutzhunde Schweiz Anfang Jahr extrem kurzfristig für 2024 die Mittel zusammengestrichen, noch bevor die Vernehmlassung zur neuen Revision der Jagd- und Schutzverordnung (JSV) gestartet wurde, geschweige denn eine solche Neuregelung beschlossen worden wäre. Das ist ein weiterer Schlag gegen die Koexistenz von Wolf und Alpwirtschaft, nachdem die Bundesverwaltung im letzten Herbst schon die Regulierungsbegehren von fünf Kantonen praktisch durchgewunken hatte.

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Die Rolle des Wolfs im Bergwald ist wichtig – er reguliert die Hirsche, wodurch Jungwald erst wachsen kann. © mauritius/Dario Pautasso

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Dank Herdenschutz ist eine gute Koexistenz von Wolf und Alpwirtschaft möglich. © Herdenschutz Schweiz

Die relevanten Ziele – eine gute Koexistenz und ein funktionierender Herdenschutz – kommen in den Medienmitteilungen der Kantone zur neuen Wolfsregulierung nicht vor, und sie fehlen auch in den Verlautbarungen zur neuen JSV-Revision. Der positive Effekt des Wolfes auf die Naturverjüngung insbesondere des Schutzwaldes wird in den neuen Bestimmungen ebenfalls nicht berücksichtigt. Im Vordergrund steht der Abschuss.

Dahinter steht das Bild einer Welt, in welcher der Mensch die Natur bis in jedes Detail dominiert. Man müsse die Verteilung der Wolfsrudel steuern, sagte ein Vertreter des Bundesamts für Umwelt (BAFU) Anfang Jahr im Tagesgespräch von Radio SRF. Es habe am einen Ort zu viele Wölfe und am anderen Ort zu wenige, sagte er. Doch die Verteilung der wildlebenden Tiere wird – das zeigt die Ökologie – durch das Angebot von Lebensraum und Nahrung bestimmt. Wenn man dagegen ankämpfen will, wird man endlos Tiere schiessen müssen.

Und ganz generell: Ist denn die Schweizer Natur ein Zoo? Sollen Mitarbeitende der Verwaltung abmachen, was es wovon wo haben darf, und was wo zu eliminieren ist? Diese Idee verfolgt die Bundesverwaltung offenbar schon seit 2011. In der damaligen JSV-Revision war vom «sozio-ökonomisch tragbaren Bestand» von Wolf, Luchs, Bär, Gänsesäger und Biber die Rede. Doch das Schweizer Jagdrecht basiert richtigerweise auf einem ganz anderen Konzept.

Eingriffe nur bei Schäden


«Lebensrecht, wo Lebensraum»: Mit diesen drei Worten beschrieb im letzten Herbst die Konferenz der Regierungsräte, die für den Wald und das JSG zuständig sind, sehr treffend den in Verfassung und Gesetz demokratisch festgelegten Umgang mit den wildlebenden Tieren. Dieser entspricht genau den ökologischen Grundsätzen: Geschützte Wildtiere können sich in der Schweiz so entwickeln, wie es ihnen der Lebensraum ermöglicht. Wenn sie Schäden verursachen – und nur dann –, kann in ihren Bestand eingegriffen werden.

Verfassung und Gesetz zeigen damit auch, dass keine «freien Zonen» zugelassen sind, in denen Wölfe, Luchse, Biber oder Gänsesäger nicht leben dürfen. Und dass es nicht in Frage kommt, die geschützten Arten auf irgendwelche von Bundes- oder Kantonsverantwortlichen festgelegten künstlichen Bestandslimiten zusammenzuschiessen. Doch mit der JSG-Revision von Ende der 2010er-Jahre wollten die Verantwortlichen der Idee zum Durchbruch verhelfen, dass von geschützten Arten nur noch ein Minimalbestand wirklich geschützt wäre, der Rest der Population aber erlegt werden könnte. Zum Glück für die Wildtiere hat das Stimmvolk diese Revision dank des Referendums von BirdLife Schweiz und anderen Organisationen im Herbst 2020 versenkt (siehe Ornis 6/20).

Allerdings geistert die Idee bis heute herum: Im SRF-Tagesgespräch beschrieb der BAFU-Interviewpartner dies beim Wolf so: Zuerst wird der Bestand bei einer bestimmten Anzahl Wölfen gesichert und nachher den Kantonen der Spielraum gegeben, einzugreifen. Das Konzept tönt nur auf den ersten Blick sinnvoll. Denn es ist genau das Modell der Schweizer Natur als Zoo, wo die Verwaltung minimalste Bestände festlegt und dann die «überzähligen» Tiere erlegt werden können. Und wer soll überhaupt solche Minimalbestände festlegen? Der aktuelle Bundesrat hat diesen Mindestbestand rein politisch und unabhängig von jeglichen Fakten bei 12 Wolfsrudeln festgelegt. Das ist viel zu wenig, um den Bestand zu erhalten. Genau vor dieser Gefahr hat BirdLife Schweiz seit vielen Jahren gewarnt.

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Mit dem Entwurf der neuen Jagdverordnung käme auch der Biber auf die Abschussliste. © typo-graphics/Alamy

Gesetzeswidriges Gebaren


Zum Glück hat das Parlament in der neuen JSG-Revision 2022 diese Idee der Schweizer Natur als Zoo nicht übernommen, sondern sowohl im Gesetzestext als auch im Protokoll der Debatte sichernde Bedingungen festgehalten. Damit die neue Wolfsregulierung laut Gesetz umgesetzt werden kann, muss zwar nicht mehr ein grosser Schaden erfolgt sein, aber er muss mit aller Wahrscheinlichkeit drohen. Sogar Bundesrat Albert Rösti hat das im Parlament oder in den Medien immer wieder betont. Dieser drohende Schaden muss plausibel gemacht werden, sonst gibt es keine Regulierung. Die Idee, alles über dem – ohnehin ungenügenden – Mindestbestand wegschiessen zu können, ist somit gesetzeswidrig. Genau deswegen haben die Naturschutzorganisationen vor Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen die neue Abschusspraxis in einigen Kantonen eingelegt.

Dank des Erfolgs des JSG-Referendums von 2020 gilt die neue Regulierung nicht auch für Gänsesäger, Graureiher, Höckerschwan, Luchs und Biber. So wollte es jedenfalls das Stimmvolk, und davon ging auch BirdLife Schweiz aus. Doch jetzt ist auch der Biber unter Beschuss. Ohne gesetzliche Grundlage soll gemäss Entwurf der neuen JSV-Revision auch der Biber abgeschossen werden, bevor ein erheblicher Schaden überhaupt geschehen ist. BirdLife Schweiz und die anderen Naturschutzorganisationen sagen ganz klar Stopp.

Die Bundesverwaltung muss dringend zu Regelungen zurückfinden, die sich an ökologischen Grundsätzen orientieren. Und der Bundesrat muss Verfassung und Gesetz einhalten. Gerade auch beim Umgang mit wildlebenden Tieren und der Natur!


Werner Müller ist ehemaliger Geschäftsführer von BirdLife Schweiz. Er verfolgt das Jagd- und Schutzrecht und dessen Anwendung seit über vierzig Jahren und stellt hier aus seiner versierten Sicht die Entwicklung von mehr als einem Dutzend Jahren vor.

Die Vernehmlassung zur zum Teil wirklich missratenen Revision der Jagd- und Schutzverordnung (JSV) läuft noch bis am 5. Juli 2024. Wenn Sie sich als Naturschutzverein oder auch als Privatperson daran beteiligen möchten, stellt Ihnen BirdLife Schweiz gerne Unterlagen zur Verfügung (E-Mail: info@birdlife.ch).

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