«Wir müssen heute mit weniger zufrieden sein»

Albert Krebs und Hansruedi Wildermuth waren von Kindesbeinen an fasziniert von allem, was kreucht und fleucht. Ornis fragte die beiden versierten Naturkenner, wie sich die Natur und der Naturschutz im Kanton Zürich in den letzten 50 Jahren verändert haben.


Seit über einem halben Jahrhundert beobachten Sie die Natur. Woher kommt diese Begeisterung?

Albert Krebs: Sie wurde mir offenbar in die Wiege gelegt. Schon als kleiner Knirps habe ich auf dem Heimweg vom Kindergarten junge Frösche in die Taschen gesteckt und in unserer Küche in die Freiheit entlassen. In Kartonschachteln habe ich Schmetterlingsraupen gross gezogen. Später habe ich meinen Privatzoo um Libellenlarven und andere Wassertiere erweitert. Ich wollte wissen, wie sie sich entwickeln und wie sie ihre Beute fangen. Die Eltern zeigten gros-ses Verständnis für mein ungewöhnliches Hobby und trugen es mit Fassung, wenn sich eine Raupe am Lampenschirm verpuppte oder beim Wischen unter dem Sofa die Mumie eines Molchs zum Vorschein kam.

Hansruedi Wildermuth: Bei mir war das ganz ähnlich. Ich hatte als Primarschüler einen langen, aber spannenden Schulweg. Zuerst sammelte ich Schneckenhäuschen am Wegrand und kam ständig zu spät zur Schule. Eine Kiesgrube war mein Spielplatz. Es hatte Unken, Kreuzkröten und Laubfrösche – alles, was heute so extrem selten geworden ist. Zuhause hatte ich auch einen ganzen Zoo, vom Insekt über die Schlange bis zum Vogel. 

 

Das Interesse an der Natur kam nicht von den Eltern oder einer anderen Person? 

Krebs: Nein. Meine Eltern und Brüder haben eine «normale» Beziehung zur Natur und sind nicht so angefressen wie ich. Es war ein Glücksfall für mich, dass ich an der Kantonsschule in Dr. Messikommer einen Biologielehrer fand, der meine Naturbegeisterung noch beflügelte und dem ich eine grosse Bereicherung meiner Artenkenntnis zu verdanken habe.

Wildermuth: Immerhin liessen uns die Eltern gewähren. Das war nicht selbstverständlich. 

 

Später haben Sie Ihr Hobby zum Beruf gemacht. 

Wildermuth: Ich komme aus einer Musikerfamilie. Meine Mutter hatte den Wunsch, dass ich Pianist werde. Ich ging 20 Jahre lang in die Klavierstunde. Studiert habe ich aber Biologie. Mein Ziel war es, das Fach am Gymnasium zu unterrichten.

Krebs: Eigentlich hätte ich auch gerne Biologie studiert. Weil mir aber die Chancen für eine Anstellung unsicher schienen, entschied ich mich für eine Ausbildung zum Primarlehrer und später zum Sekundarlehrer. Im Biologieunterricht versuchte ich, in meinen Schülern das Interesse an der Natur zu wecken, indem ich das Schulzimmer mit Pflanzen und allerlei Getier belebte. In meiner Freizeit widmete ich mich mit Feuereifer der Erkundung der heimatlichen Natur und hielt meine Beobachtungen mit der Kamera fest. Zusammen mit Hansruedi entstand schon früh das Buch «Safari vor der Haustür», das im Silva Verlag erschienen ist. Er hat getextet, ich habe es illustriert. Wir ergänzen uns wunderbar. Sag mal, wann haben wir uns eigentlich kennengelernt?

Wildermuth: Das weiss ich genau: 1970, im ersten Europäischen Naturschutzjahr. Du hattest bei einem Film mitgewirkt, bei dem es um Kiesgruben ging. Der Film hat mich begeistert! Irgendwann in dem Jahr hast du dann einen Vortrag gehalten, und ich habe dich angesprochen. Dann ist es losgegangen mit unserer kleinen «grünen Mafia». 

 

Wie bitte?

Wildermuth: Das ist der Kosename für unseren gemeinsamen Freundeskreis. Wir waren sechs bis acht Gesinnungsgenossen, jeder Spezialist für eine bestimmte Artengruppe, die seit den 1970er-Jahren regelmässig in verschiedenen Gebieten gemeinsam Arten bestimmt haben. Fast alle waren Lehrer. 

 

Waren das erste inoffizielle Tage der Artenvielfalt?

Krebs: Ja, allerdings haben wir das einfach aus Freude an der Natur gemacht und unsere Funde anfänglich nicht regelmässig protokolliert. Einer kannte sich in der Pflanzenwelt aus, ein anderer bei den Käfern, Schmetterlingen, Libellen, Hautflüglern oder Spinnen. Oft sassen wir nach einer Exkursion am Abend zusammen und haben von unseren Funden erzählt. So profitierte jeder vom Wissen der anderen, wir haben viel voneinander gelernt!

 

Auf den ersten Blick sieht die Landschaft noch gleich aus. Doch die Tier- und Pflanzenwelt hat sich komplett verändert


War Artenkenntnis während Ihrem Studium ein Thema?

Krebs: Leider nicht! Es ging fast ausschliesslich um Anatomie, Physiologie und Genetik. Ökologie war noch ein Fremdwort und Verhaltensbiologie nur ein Nebenschauplatz. Das war nicht das, was ich mir erhofft hatte. Die einzige Exkursion, die ich an der Universität hatte, war ein Ausflug an die Glatt mit unserem Professor. Wir haben elektrisch gefischt, und als alle Fische auf dem Rücken schwammen, sind wir wieder zurück ins Labor. 

Wildermuth: Von meiner Ausbildung her bin ich Genetiker und kein Ökologe. Mein Interesse galt aber dem, was draussen in Feld und Flur vor sich geht. Und natürlich dem Schutz der Natur. Bereits mit 15 bin ich Mitglied beim Schweizerischen Bund für Naturschutz geworden. 
Krebs: Ich auch! Man hat ein tolles Abzeichen bekommen!

Wildermuth: Mit einem Steinbock drauf. Wirklich aktiv im Naturschutz bin ich aber erst mit dem ersten Naturschutzjahr geworden. Das war ein ganz wichtiges Ereignis, ein Meilenstein des Schweizer Naturschutzes. Die Gemeinden wurden aktiviert, und es wurden viele neue Naturschutzvereine gegründet. 

Krebs: Mit den Amphibien rückte damals eine Organismengruppe ins Rampenlicht, die zuvor wenig Aufmerksamkeit erhalten hatte. Im Kanton Zürich wurde ein Inventar mit allen wichtigen Laichgewässern erstellt. Ich bekam ein Revier zugeteilt und war oft bis spät nachts unterwegs, um alles zu kartieren. Die Stimmung im Naturschutzjahr war hervorragend. Unser damaliger Stadtförster, dem das Wohl der Natur am Herzen lag, kontaktierte meinen Freund Jakob Forster und mich, um von uns zu erfahren, wie man die Lebensbedingungen der Amphibien in seinem Wald verbessern könnte. In der Folge wurden an geeigneten Stellen etliche Weiher geschaffen, die sich innert weniger Jahre mit Amphibien und anderen Wasserbewohnern bevölkerten. Auch der hiesige Rotaryclub wurde vom Naturschutzvirus angesteckt und verwandelte das Areal einer ehemaligen Gärtnerei in ein Amphibienreservat, das sich später zu einem Hotspot für Libellen entwickelte.

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Safari vor der Haustür: Dieses Kreuzkrötenmännchen rief am 25. April 1959 in der Kiesgrube etwa 70 m vom Haus in Rüti entfernt, wo Hansruedi Wildermuth aufwuchs. © Hansruedi Wildermuth

Wie haben Sie denn vor 50 Jahren die Arten bestimmt?

Wildermuth: Das war ein Problem. Lange Zeit gab es keine entsprechende Literatur, oder diese war für uns nicht verfügbar. Die ersten Bestimmungshilfen waren die Büchlein aus dem Hallwag Verlag. 

Krebs: Später kamen die Kosmos-Führer dazu, beispielsweise «Was blüht denn da?». Um Anfängern das Bestimmen zu erleichtern, waren die Pflanzen nach Blütenfarbe geordnet. 

Wildermuth: Diese Bücher habe ich mir leider nicht leisten können. Aber ich hatte einen Freund, der sich auch für Natur interessierte und dessen Eltern eine Buchhandlung hatten. Er besass alle diese tollen Bücher. Zum Glück hatte er einen Hund, der mit Vorliebe die Hallwag-Büchlein zerkaute. Die habe ich bekommen, während mein Freund neue erhielt. So habe ich die Arten kennengelernt. Alles im Selbststudium! 

 

Wie hat denn die Natur im Kanton Zürich vor 40 bis 50 Jahren ausgesehen? Hat sich viel verändert?

Wildermuth: Ich bin vor 20 Jahren wieder in mein Elternhaus gezogen in Rüti im Kanton Zürich. Es handelt sich um ein kleines Einfamilienhaus am Rand der Bauzone. Rundum hat es Wiesland und Obstbäume, weiter weg ist Wald. Auf den ersten Blick sieht die Landschaft noch genau gleich aus. Doch als ich in die Primarschule ging, hat der Gartenrotschwanz über der Haustüre gebrütet. Kuckuck, Trauerschnäpper, Kleinspecht, Wendehals, Laubfrosch und Kreuzkröte waren in meiner näheren Umgebung verbreitet. In der Zwischenzeit sind diese Arten verschwunden, die Tier- und Pflanzenwelt hat sich komplett verändert. Viele der Obstbäume sind zwar noch da, aber die Artenzusammensetzung der Wiesen ist eine ganz andere. Früher hatte es Margeriten, Wiesensalbei und unzählige Insektenarten. Die Vielfalt ist mit der Nutzungsintensivierung verschwunden. Damals wurde die Gülle mit der Holzkarette aufs Feld gefahren und von Hand ausgebracht. Die Wiesen wurden jährlich maximal zweimal geschnitten. Heute wird intensiv gegüllt und sechsmal geschnitten. Man kann sich vorstellen, was dann mit der Artenvielfalt passiert. 

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Hansruedi Wildermuth: «Ich habe stets versucht, mich am Positiven zu orientieren. Sonst sind die Batterien schnell leer.» (Foto © Gregor Klaus)
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Albert Krebs: «Wir dürfen uns immer noch über vieles freuen, was erhalten geblieben ist.» (Foto © Gregor Klaus)


Können Sie die Verluste quantifizieren?

Wildermuth: Am Anfang habe ich nur beobachtet. Die ganzen Methoden und Statistiken waren noch gar nicht entwickelt. Erst nach 1980 habe ich eigentliche Artenlisten geführt.

Krebs: Als ich in die Kantonsschule ging, habe ich meine Beobachtungen, speziell von Vögeln, regelmässig aufgeschrieben. Irgendwann fand ich, das sei «Chabis» und habe alles weggeworfen. Doch auch ohne diese schriftlichen Zeitzeugen kann ich mit Sicherheit sagen, dass unsere Natur seit Mitte des letzten Jahrhunderts grosse Einbussen erlitten hat.

 

War das nicht frustrierend, zusehen zu müssen, wie die Natur jedes Jahr ärmer wurde?

Krebs: Sehr sogar! Ich erinnere mich an eine Exkursion mit Hansruedi vor einigen Jahren in die Präuselen bei Flaach. Das Gebiet war früher ein botanisches Bijou mit wechselfeuchten Streuwiesen und einer biologisch wertvollen alten Kiesgrube. Bei unserem Augenschein waren die Wiesenparzellen von massiv gedüngten 
Maisäckern flankiert und botanisch verarmt, die Kiesgrube verbuscht. 

 

Wann haben die grössten Veränderungen stattgefunden?

Wildermuth: Das kann man nicht so genau sagen. Aber ab den 1950er-Jahren ging es sicher steil bergab. 

Krebs: Der eigentliche Einbruch fand interessanterweise erst nach der Anbauschlacht im 2. Weltkrieg statt. Als besonders verheerend habe ich die Meliorationen empfunden. Grosse Teile des Neeracherrieds wurden so zerstört. Es ist unfassbar, was da an Naturwerten verloren gegangen ist. Populationen verschwanden oder wurden ausgedünnt. Ein eindrucksvolles Beispiel: Den Schachbrettfalter konnte man auf jeder blumenreichen Wiese beobachten, meistens in gros-ser Zahl. Der berühmte Insektenforscher und damalige Direktor der Psychiatrischen Klinik Rheinau hat in seinem Tagebuch zum Schachbrett notiert: «Bis zur Lästigkeit häufig». Heute gilt die Art als Indikator für ökologisch wertvolle Wiesen! Früher war der Falter eine Realität, heute ist er eine Rarität. Es stimmt uns traurig, wenn wir beim Besuch einer ehemaligen Magerwiese mit reichem Orchideenbestand an deren Stelle eine triviale Fettwiese vorfinden. Einmal wollte ich Orchideen fotografieren und konnte mich in letzter Sekunde vor einem Gülleregen in Sicherheit bringen. Einmal güllen reicht, und alle Orchideen verschwinden. 

Wildermuth: Bis in die frühen 1970er-Jahre waren die Verluste massiv! Mit dem Naturschutzjahr wurde der Kanton Zürich hellhörig. Ein wichtiger Meilenstein war die Gründung der Fachstelle Naturschutz. Der Prozess verlief zwar zunächst harzig, aber heute ist die Fachstelle eine professionelle Institution. Ein Team von Fachpersonen sorgt dafür, dass die gesetzlichen Vorgaben umgesetzt werden. Viele wertvolle Gebiete wurden erhalten. Wenn es die Fachstelle nicht gegeben hätte, wären vermutlich die meisten naturnahen Flächen, die heute in Naturschutzgebieten erhalten werden, verschwunden. Ganz wichtig waren aber auch die Tätigkeiten privater Naturschutzorganisationen wie Pro Natura Zürich und Zürcher Vogelschutz.

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Junge Zwergdommeln am Betteln. © Albert Krebs
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Diese Bekassinen sind gerade erst geschlüpft. © Albert Krebs
Mitte des letzten Jahrhunderts brüteten im Robenhauser Ried am Pfäffikersee ZH noch Arten, die inzwischen längst verschwunden sind. Sie waren nicht selten, und Fotografieren am Nest war ganz normal. Diese beiden Aufnahmen stammen vom Frühling 1951.


Hat die Fachstelle auch auf Ihr Wissen zurückgegriffen?

Krebs: Weil wir mit vielen Lebensräumen in unserer Region vertraut waren, wurden wir im Zusammenhang mit Naturschutzprojekten des öftern als Berater beigezogen.

Wildermuth: Wir waren ein mobiles Auskunftsbüro für den praktischen Naturschutz. Irgendwann wurde mir das zu viel, und ich habe 1974 das Buch «Naturschutz im Zürcher Oberland» verfasst. 
Krebs: Ein Markstein in der Naturschutzliteratur mit faszinierenden Einblicken in ökologische Beziehungen! 

 

Haben wir den Tiefpunkt des Artensterbens erreicht?

Krebs: Ich habe den Eindruck, dass sich die Situation seit den 1970er-Jahren dank der neuen gesetzlichen Grundlagen erfreulich gebessert hat. 

Wildermuth: Mich hat das Artensterben extrem frustriert! Ich habe aber stets versucht, mich am Positiven zu orientieren. Sonst sind die Batterien schnell leer. In der Drumlinlandschaft Zürcher Oberland habe ich sehr viel Positives erlebt. 1998 wurde eine Schutzverordnung erlassen. Ich war externer Fachberater und setze mich bis heute für die Erhaltung der Naturwerte in dem Gebiet ein. Ich war positiv überrascht, dass man sehr viel bewegen kann, wenn man in den Projekten aktiv mitarbeitet. 

 

Gibt es also Hoffnung?

Wildermuth: Ich kann das nur regional beurteilen. In der Drumlinlandschaft Zürcher Oberland wendet sich vieles zum Besseren. In der Normallandschaft sieht es nach wie vor nicht so gut aus. Wichtig ist eine gute gesetzliche Grundlage. Die Rothenthurm-Initiative und der anschlies-sende Moorschutz waren enorm wichtige Meilensteine. Gesetze sprechen eine klare Sprache. So hat das Bundesgericht vor kurzem endgültig NEIN zu einer Autobahn durch die Drumlinlandschaft gesagt. Manchmal braucht der Naturschutz einen langen Atem. Zum Autobahnprojekt hatte ich meterweise Sitzungsprotokolle und Dokumente in meinem Schrank. 

Interview Obstgarten 2013 Hwildermuth

In diesem Obstgarten sieht es auf den ersten Blick noch aus wie in den 1950er-Jahren. Doch Gartenrotschwanz, Kleinspecht, Trauerschnäpper und Co. brüten heute nicht mehr hier. © Hansruedi Wildermuth


Ist der Naturschutz heute besser verankert als vor 40 Jahren?

Wildermuth: Eindeutig! Früher hatte es der Naturschutz viel schwieriger. Aber auch der Naturschutz hat sich gewandelt. Früher legte der Kanton fest, dass eine bestimmte Feuchtwiese geschützt ist. Dem Bauern wurde die Schutzverfügung per Post ins Haus geschickt. Der hat sich geärgert und die Wiese gegüllt. Jetzt gibt es Bewirtschaftungsbeiträge, und alle Seiten sind zufrieden. Der finanzielle Ertrag einer Streuwiese ist heute vergleichbar mit dem einer Fettwiese.

Krebs: Wenn wir, zum Beispiel bei den Vögeln, auch manchen Verlust zu beklagen haben, dürfen wir uns immer noch über gar vieles freuen, was uns erhalten geblieben ist. Dies haben wir nicht zuletzt all jenen zu verdanken, die sich seit Jahren bei Pflegearbeiten, im wissenschaftlichen Bereich und auf politischer Ebene für die Anliegen des Naturschutzes einsetzen. Es ist aber auch wichtig, dass Gebiete renaturiert werden. 

Wildermuth: Entscheidend beim Naturschutz sind die Aktivitäten auf lokaler Ebene. Meine Wohngemeinde ist klein, hat aber 14 Schutzgebiete von kantonaler Bedeutung und manche Flächen von kommunaler Bedeutung. Der Anstoss muss allerdings von Fachleuten und engagierten Personen kommen. Wenn die fehlen oder die Gemeinde bremst, passiert nichts. Man muss der Bevölkerung zeigen, dass Naturschutz eine gute Sache ist. Oft reicht ein Steinhaufen oder ein Tümpel als Startpunkt, um der Natur auf die Sprünge zu helfen. 

 

Herr Krebs, hinter Ihnen hängt ein grosses Gemälde mit einer Kiesgrube – ein eher unübliches Motiv. Hat das eine besondere Bewandtnis?

Wildermuth: Der Albi ist ein Pionier beim Kiesgrubenschutz! Er hat mich mit seiner Faszination für diesen Lebensraum angesteckt!

Krebs: Kiesgruben sind Ersatzlebensräume für all die durch Flusskorrektionen verschwundenen Auengebiete. Ich habe Gruben besucht, in denen sich fast alle einheimischen Amphibien fortgepflanzt haben. Leider galten Kiesgruben lange Zeit, auch in Naturschutzkreisen, als Schandflecken in der Landschaft. 

Wildermuth: Das Problem mit den Kiesgruben ist, dass sie Pionierbiotope sind und viel Pflege benötigen. Die Verbuschung erfolgt innerhalb von wenigen Jahren. Als in den 1990er-Jahren die Wildnisdebatte aufkam, forderten prominente Naturschützer, die Pflege einzustellen und die Gebiete sich selbst zu überlassen. Das wäre aber das Ende der speziellen Artenvielfalt in diesen Lebensräumen gewesen. Diese Diskussion hat mich geärgert. 

Krebs: Pionierstandorte sind bei uns ausgesprochene Mangelbiotope und Refugien für sonnenhungrige, wärmeliebende Pflanzen, Insekten und Reptilien. Als ich mich vor Jahren für Kahlschläge im ansonsten lichtarmen Wirtschaftswald stark machte, kam das bei vielen Naturschützern nicht gut an. Die Förster waren verunsichert, und einer fragte mich auf einem Forstumgang, was wir Biologen denn nun eigentlich fordern: Kahlschläge oder naturnahen Waldbau. Meine Antwort, kurz und bündig: beides! 

Wildermuth: Auf Kahlschläge und Kiesgruben können wir erst verzichten, wenn wir wieder mehr Dynamik in der Landschaft haben, das heisst funktionsfähige Auen und Urwälder mit den natürlichen Lücken im Baumbestand. 

 

Noch eine letzte Frage an Herrn Krebs: Haben Sie in der Umgebung der Seniorenresidenz Konradhof interessante Naturbeobachtungen gemacht?

Krebs: Tatsächlich habe ich kurz nach meinem Einzug mit dem Feldstecher an der gegenüberliegenden Hauswand zwei Nester der Grossen Töpferwespe entdeckt. Diese Beobachtung hat mich in helle Begeisterung versetzt!

 

Dr. Gregor Klaus ist freischaffender Wissenschaftsjournalist,
Dr. Daniela Pauli ist Redaktorin von Ornis. 

 

Die Hintergründe zum Interview


Seit vielen Jahren stellt Albert Krebs dem Schweizer Vogelschutz SVS/BirdLife Schweiz hervorragende Naturbilder kostenlos zur Verfügung. Bei seinen Besuchen auf der SVS-Geschäftsstelle erzählt er jeweils begeistert von seinen unzähligen Erlebnissen in der heimischen Natur. So enstand die Idee, einige seiner Geschichten in Ornis zu veröffentlichen. Da Albi, wie er sagt, nur einen kleinen Teil des Kantons Zürich gut kenne und zudem nicht Experte für alle Organismengruppen sei, regte er an, zum Interview auch seinen Freund Hansruedi Wildermuth einzuladen. Zusammen mit weiteren Naturbegeisterten waren die beiden während über 40 Jahren immer wieder stunden- und tagelang für ihre Naturstudien unterwegs. 1996 erschien im Silva-Verlag ihr gemeinsames Werk «Safari vor der Haustür». Die Bilder stammten von Albert Krebs, Hansruedi Wildermuth verfasste die Texte. 

Albert Krebs wurde in Winterthur-Töss ZH geboren. Seit seiner Kindheit ist er unterwegs, um die Tierwelt im Zürcher Oberland zu erforschen: zuerst die Vögel, später die Amphibien und Reptilien, dann folgten die Insekten. Auch neben seiner Tätigkeit als Primar- und Sekundarlehrer erkundete er die heimatliche Natur und hielt seine Beobachtungen mit der Kamera fest. Die Bilder dienten zur Bereicherung des Biologieunterrichts und seiner Vorträge, fanden aber auch häufig Eingang in Zeitschriften, wissenschaftliche Publikationen und Bücher, unter anderem ins Werk über die Bienen Mitteleuropas von Andreas Müller, Albert Krebs und Felix Amiet von 1997, das 2012 in einer Neuauflage beim Haupt-Verlag erschien. Sein umfangreiches Fotoarchiv stellte er der Entomologischen Sammlung der ETH Zürich und dem Schweizer Vogelschutz SVS/BirdLife Schweiz zur Verfügung; als Ornis-Leserin oder -Leser sind Ihnen diese Bilder bestens bekannt. Wir danken Albert Krebs an dieser Stelle nochmals ganz herzlich, dass wir auf diesen Bilderschatz zugreifen dürfen!

Dr. Hansruedi Wildermuth wuchs in Rüti ZH auf, studierte Biologie und ist ebenfalls seit seiner Kindheit von der Natur vor seiner Haustüre begeistert. Als Biologielehrer an der Kantonsschule Wetzikon konnte er sein Wissen Generationen von Maturandinnen und Maturanden auf den Weg geben. Nach längerer Lehrtätigkeit kamen bei reduziertem Schulpensum Naturschutzforschung, Habilitation, Vorlesungen und Kurse an der Uni Zürich hinzu. Hansruedi Wildermuth gehört europaweit zu den besten Libellenkennern und ist an zahlreichen Fachpublikationen beteiligt. Zudem veröffentlichte er Bücher zur Naturschutzpraxis; sein wegweisendes Werk «Natur als Aufgabe. Leitfaden für die Naturschutzpraxis in der Gemeinde» von 1978 gilt noch heute als Standardwerk. Zurzeit arbeitet Wildermuth zusammen mit Andreas Martens am Taschen-lexikon der Libellen Europas, in welchem alle Arten von den Azoren bis zum Ural vorgestellt werden. Das Werk wird im Frühling 2014 im Verlag Quelle & Meyer erscheinen.

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