Diese Länder machen vorwärts

Lernen von unseren Nachbarn. Die EU nimmt den Schutz ihrer Bio­diversität ernst und setzt sich ambitionierte Ziele. So hat das Parlament erst kürzlich ein Gesetz zur Wiederherstellung von Ökosystemen verabschiedet. In der Schweiz herrscht dagegen seit Jahren Stillstand. Was funktioniert im europäischen Ausland besser als bei uns?


Was haben Deutschland, Österreich oder sogar Luxemburg gemein? Es sind alles Länder, die einen respektablen Wohlstand aufweisen – und die der Schweiz beim Schutz der Biodiversität um Meilen voraus sind. Gleichzeitig ist unser Land in Europa das Land mit dem geringsten Anteil an Schutzgebietsflächen. Es hat mit 35 % an bedrohten Arten eine der längsten Rote Listen aller Industrienationen. Am mangelnden Wohlstand kann es in der Schweiz nicht liegen. Was also läuft anders in unserem nachbarschaftlichen Umfeld?

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Noch vor 45 Jahren war die Schweiz im Naturschutz ganz vorne mit dabei. Eine der wichtigsten Grundlagen in Europa für den Schutz der Biodiversität wurde sogar in der Schweiz unterzeichnet: Die Berner Konvention wurde 1979 als völkerrechtlicher Vertrag zum Schutz wildlebender Tiere und Pflanzen in Europa verabschiedet. Damit verpflichtete sich auch die Eidgenossenschaft, Gebiete von besonderem Schutzinteresse für den Schutz seltener und gefährdeter Lebensräume und Arten auszuweisen, im sogenannten Smaragd-Netzwerk.

Doch wie ging es weiter? Erst im Oktober 2009 meldete der Bund ein kleines und klar ungenügendes Paket von 37 Smaragd-Gebieten beim Europarat an. Dabei handelte es sich jedoch bei allen Gebieten bis auf eines um bereits bestehende Schutzgebiete, die erst einen kleinen Teil der schützenswerten Lebensräume und Arten abdecken. Und während die EU-Länder ihr Schutzgebiets-Netzwerk unter dem Namen «Natura 2000» längst aufgebaut haben, ist der Prozess in der Schweiz seit über einem Jahrzehnt blockiert. Hoffnung beruht auf dem Aufbau einer Ökologischen Infrastruktur, die vom Bundesrat 2012 beschlossen wurde, und mit welcher laut Bundesamt für Umwelt auch das Smaragd-Netzwerk errichtet werden soll.

Mit «Natura 2000» weit voraus

Mit dem Natura-2000-Netzwerk möchten die EU-Länder im Rahmen der Berner Konvention den Erhalt der wertvollsten und am meisten bedrohten Arten und Lebensräume in Europa sicherstellen. Das dazugehörende EU-weite Gesetz nennt sich Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) und trat 1992 in Kraft. «Natura 2000» umfasst zudem auch Vogelschutzgebiete, die nach der Vogelschutzrichtlinie von 1979 ausgewiesen wurden. Bis heute haben die EU-Länder über 27 000 Natura-2000-Gebiete bezeichnet. Über 5000 davon liegen in Deutschland (siehe Karte).

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Karte: die 5000 Natura-2000-Gebiete Deutschlands.

Auch in den EU-Ländern stockte anfänglich die Umsetzung, weshalb die Naturschutzverbände unter der Koordination von BirdLife International in den 1990er-Jahren selber aktiv wurden und in jedem Land die Gebiete ermittelten, die für die Vögel besonders wichtig sind. Diese «Important Bird and Biodiversity Areas» (IBAs) wurden nach einheitlichen wissenschaftlichen Kriterien ausgewiesen. In der EU flossen sie in grossen Teilen in das Natura-2000-Netzwerk ein. Und in der Schweiz? Hierzulande wurden weder die IBAs noch andere wichtige Lebensräume ausreichend geschützt.

Zu langfristigem Schutz verpflichtet

Die europäische FFH-Richtlinie weist über 200 Lebensraumtypen sowie mehr als 1000 Tier- und Pflanzenarten als Lebensräume und Arten von «gemeinschaftlicher Bedeutung» aus. Für diese Arten und Lebensräume haben sich die EU-Länder zur langfristigen Sicherung eines «günstigen Erhaltungszustands» verpflichtet. Die Mitgliedsländer müssen regelmässig Bericht an die Europäische Kommission erstatten.

Kommt ein Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen nicht nach, kann ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden, das in einem Bussgeld münden kann. Solche Verfahren wurden u. a. bereits gegen Deutschland, Spanien und Malta eingeleitet. Das zeigt: Auch in der EU steht es zwar um den Schutz der Biodiversität noch lange nicht zum Besten. Aber in der EU wird die Biodiversität bereits heute besser geschützt als in der Schweiz – und der Staatenbund hat wirksame Instrumente, um die Umsetzung der Gesetze einzufordern. Für das Smaragd-Netzwerk der Nicht-EU-Länder fehlen diese Instrumente. Und die von der Berner Konvention ausgesprochenen Mahnungen an die Schweiz zeigen bisher keine Wirkung.

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Im Grossprojekt «Nordvorpommersche Waldlandschaft» werden grosse Waldteile aus der Nutzung genommen, um u. a. den seltenen Schreiadler zu fördern. © Tourismusverband Fischland-Darss-Zingst; Hans Glader

Die EU macht weiter vorwärts. Die ambitionierte EU-Biodiversitätsstrategie sieht vor, 30 % der EU-Fläche bis 2030 zu schützen, wobei ein Drittel davon, also 10 % der gesamten Fläche, einen strengen Schutz erhalten soll. Als streng geschützt gelten Gebiete, in denen der Naturschutz über den Bedürfnissen des Menschen steht. In der Schweiz wären das z. B. die Biotope von nationaler Bedeutung oder der Nationalpark.

2022 wurde das sogenannte «30 by 30»-Ziel auch weltweit von der Staatengemeinschaft im Rahmen der globalen Biodiversitätsverhandlungen verabschiedet. Neben der Absichtserklärung, bis 2030 mindestens 30 % der nationalen Flächen unter Schutz zu stellen, beinhaltet das Abkommen auch das Ziel, bis 2030 mindestens 30 % an zerstörten oder beeinträchtigten Ökosystemen wiederherzustellen. Die Schweiz gehört zu den unterzeichnenden Ländern und hatte sich für das Abkommen stark gemacht – trotz der grossen Defizite hierzulande.

Ende Februar hat das EU-Parlament überdies das sogenannte «EU Nature Restoration Law» bzw. EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur verabschiedet, das ein Meilenstein für den Naturschutz in Europa werden könnte. Mit dem Gesetz sollen europaweit Ökosysteme wie z. B. Wälder und Flussauen wiederhergestellt werden. Zudem sind konkrete Anforderungen für Agrarflächen und insbesondere für die Wiederherstellung von Mooren vorgesehen. «Das Nature Restoration Law ist ein wichtiger Schritt in Richtung ökologischer Sicherheit», sagt Jörg-Andreas Krüger, Präsident des NABU/BirdLife Deutschland. «Weitere müssen folgen.» Krüger erwähnt dies, weil bei der Erarbeitung des Gesetzes einige für die Natur schmerzhaften Kompromisse gemacht werden mussten. So kann das Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen ausgesetzt werden, z. B. bei einer grossen Wirtschaftskrise, und es gibt weitere Schlupflöcher. Dennoch ist der Gesetzestext ein grosser Erfolg. Die EU-Länder müssen voraussichtlich im April noch ein zweites Mal zustimmen, was hoffentlich keine grosse Hürde mehr ist. Die Umsetzung des Wiederherstellungsgesetzes wird auf nationaler Ebene erfolgen.

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Im Naturschutzgrossprojekt Vogelsberg fördert Deutschland den Erhalt seltener Biotope wie artenreiche Bergwiesen oder Moore. © Raimund Linke/mauritius images

Das Beispiel Luxemburg

Immer wieder wird ins Feld geführt, die Schweiz sei sehr dicht besiedelt und habe daher weniger Spielraum für Naturschutz. Doch Luxemburg ist dichter besiedelt als die Schweiz und hat dennoch bereits knapp 30 % der Landesfläche als Schutzgebiete ausgewiesen – während die Schweiz mit mageren rund 10 % das Schlusslicht in Europa bildet. Zwar steht es auch in Luxemburg nicht zum Besten um die Biodiversität; es ist das am stärksten zersiedelte Land Europas, und die Versiegelung liegt über dem europäischen Durchschnitt. Und doch schaffen die Luxemburger es, beim Schutz und der Wiederherstellung von Ökosystemen tatkräftig vorwärtszumachen. Wohlgemerkt, ohne dabei an Wohlstand einzubüssen – Luxemburg hat pro Kopf ein höheres Bruttoinlandprodukt als die Schweiz.

Eine wichtige Grundlage für den Naturschutz in Luxemburg ist ein rechtlich verankerter nationaler Naturschutzplan, der sich an der EU-Biodiversitätsstrategie orientiert. Unter anderem sollen weitere Flächen gesichert und vor allem der Anteil der streng geschützten Flächen erhöht werden. Dazu strebt das Land z. B. den Schutz von 10 000 ha Waldreservaten an, von 5000 ha Offenlandlebensräumen mit hohem ökologischen Wert und von 6000 ha sensiblem Grünland. Eine gute Biodiversitätsstrategie hätte auch die Schweiz bereits seit 2012 – allein mit der Umsetzung hapert es gewaltig.

Als ein Erfolgsrezept in Luxemburg hat sich die Etablierung sogenannter Naturschutzsyndikate erwiesen. Dies sind kommunale Zweckverbände mit eigenen Verwaltungsstrukturen. Jede Gemeinde hat einen Abgeordneten im jeweiligen Syndikat. Über 90 % der Luxemburger Gemeinden sind freiwillig Mitglied in einem solchen Verband. Diese sogenannten Biologischen Stationen übernehmen Naturschutzaufgaben auf lokaler bis interkommunaler Ebene: Sie planen Massnahmen und setzen diese samt Erfolgskontrollen um, erheben wissenschaftliche Daten, schliessen Verträge mit Landwirten für eine extensive Nutzung von artenreichem Grünland ab und betreiben Öffentlichkeitsarbeit.

Das älteste und grösste Naturschutzsyndikat nennt sich SICONA, bei dem über 70 Mitarbeitende an der Umsetzung umfassender Naturschutzziele arbeiten. Die finanzielle Ausstattung kann sich sehen lassen. Die 43 Mitgliedsgemeinden finanzieren die Naturschutzarbeit zum grössten Teil. Dabei werden die praktischen Massnahmen vom Staat zu 50 bis 100 % unterstützt und die Projekte entsprechend den Vorgaben nach dem Nationalen Naturschutzplan durch das Umweltministerium gefördert. Ein staatlicher Umweltschutzfonds fördert zudem grössere Massnahmen.

Neben konkreten Arten- und Biotopschutzmassnahmen, Landschaftspflegearbeiten oder der Schaffung sowie der Wiederherstellung von Lebensräumen kommen Bemühungen um die Inwertsetzung und öffentliche Wahrnehmung der Naturschutzarbeit hinzu. So fördert das Projekt «Natur geniessen», initiiert von SICONA und mittlerweile national umgesetzt, den regionalen Absatzmarkt der Landwirte. Zum Beispiel werden die landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die nach vorgegebenen Natur- und Umweltschutzleistungen produziert werden, in Kindertageseinrichtungen geliefert. Damit erhalten die Produzentinnen und Produzenten mehr Sichtbarkeit und Wertschätzung für ihre wichtigen Aufgaben für die Natur.

Hopp Schwiiz!

Natura-2000-Netzwerk, FFH-Richtlinie, EU-Wiederherstellungsgesetz, Naturschutz-Syndikate – bei so vielen guten Ansätzen in der Nachbarschaft sollte sich die Schweiz dringend vom einen oder anderen Erfolgsrezept inspirieren lassen. Stattdessen blockieren, bremsen und bekämpfen Teile der Politik und Lobbyisten an allen Ecken und Enden den Naturschutz.

Von wissenschaftlicher Seite ist die Faktenlage klar: Der Handlungsbedarf ist enorm. Um den Biodiversitätsrückgang in der Schweiz aufzuhalten, braucht es eine massive Verstärkung der Massnahmen in allen Bereichen der Politik und Gesellschaft. Auch in der Bevölkerung wächst das Bewusstsein, dass es in der Schweiz nicht gut um die Biodiversität bestellt ist; das macht die Umfrage von BirdLife Schweiz und Pusch von 2023 deutlich. Ebenso, dass die Biodiversität über alle soziodemografischen Gruppen hinweg eine Herzensangelegenheit ist.

Doch noch hat die Erhaltung und Förderung unserer Lebensgrundlagen in der Schweizer Politik keine Priorität. Diese wird erst dann handeln, wenn der Druck aus der Bevölkerung unbequem wird. Die Abstimmung zur Biodiversitätsinitiative vom 22. September 2024 (siehe Seite 6) ist nun die Gelegenheit, den nötigen Umschwung einzuleiten.


Dr. Franziska Wloka ist Projekt­leiterin bei BirdLife Schweiz und gemeinsam mit Dr. Anne-Lena Wahl zuständig für die Kampagne Ökologische Infrastruktur.

Naturschutz aus einer Hand


Zwei von sechs Biologischen Stationen in Luxemburg sind im Naturschutzsyndikat SICONA organisiert (siehe Text). Dr. Simone Schneider leitet dessen wissenschaftliche Abteilung.

Frau Schneider, Luxemburg ist ein dichter besiedeltes Land als die Schweiz. Trotzdem sind bei Ihnen knapp 30 % der Flächen für die Biodiversität geschützt. Wie hat Luxemburg das geschafft?
Überwiegend handelt es sich dabei um Natura- 2000-Gebiete, aber teils auch um strenger geschützte nationale Naturschutzgebiete. Letztere machen etwa 4,4 % der Landesfläche Luxemburgs aus. Eine verstärkte Ausweisung von Schutzgebieten erfolgte in den letzten Jahren im Rahmen des Nationalen Naturschutzplans von Luxemburg, der sich an der EU-Biodiversitätsstrategie orientiert. Das Umweltministerium hat die Prioritätenliste der Gebiete in den letzten Jahren vehement abgearbeitet und fortlaufend Gebietserweiterungen vorgenommen.

In Luxemburg ist Naturschutzarbeit stark auf lokaler Ebene verankert. Bewährt sich das?
Auf jeden Fall! Der direkte Kontakt zu den Akteuren vor Ort, sei es zu den Gemeindeverantwortlichen und -angestellten, Landnutzern und Privatbesitzern, ist Gold wert. Mit den Naturschutzsyndikaten haben wir direkte Ansprechpartner vor Ort. Mit unserem interdisziplinären Team bieten wir unseren Gemeinden ein «Rundum-Sorglos-Paket» in Sachen Naturschutz. So funktioniert die Naturschutzarbeit aus einer Hand. Die Arbeiten werden geplant und mittels eigenem Fuhrpark umgesetzt, und es erfolgt eine Erfolgskontrolle. Beratung und Sensibilisierung, bei denen wir die Kinder bis hin zu den Erwachsenen mit einbinden, runden unsere Arbeit ab. Weitere Vorteile sind die hohe Identifizierung der Gemeinden mit «ihrem» Syndikat.

Trotz der vielen Schutzflächen steht es auch in Luxemburg um die Biodiversität nicht zum Besten. Wo gibt es noch Potenzial?
Insgesamt haben wir sehr gute Rahmenbedingungen, wir haben umfassende Zielsetzungen durch den Nationalen Naturschutzplan, der Strategie zum Erhalt und der Wiederherstellung des artenreichen Grünlandes, den Managementplänen der Natura-2000-Gebiete und dazu eine gute finanzielle Ausstattung – sowohl von nationaler als auch von kommunaler Seite. Nur ist der administrative Aufwand oft recht hoch, die Projektplanungen werden dadurch zeitaufwendig. Wichtig wäre es zukünftig auch, die Zusammenarbeit mit den Landnutzern noch weiter auszubauen, z. B. durch gesamtbetriebliche Beratungen und gemeinsamen Austausch, neben ergebnisorientierten Förderprogrammen.

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