Die Wiederherstellung der zerstörten Ökosysteme muss hierzulande höchste Priorität erhalten. © fotojog/iStock
Am 19. Dezember 2022 haben die 196 Vertragsstaaten der Biodiversitätskonvention – darunter die Schweiz – in Kanada den globalen Zielrahmen für die Biodiversität (Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework, KMGBF) verabschiedet (siehe auch Ornis 1/23). Wie ist zehn Monate später die Umsetzung in der Schweiz geplant? Und welche Punkte sind dabei von besonderer Bedeutung?
Die Verabschiedung des globalen Zielrahmens in Montreal war ein sehr wichtiger Meilenstein für die Biodiversität weltweit. Noch nie zuvor haben so viele Würdenträger und Staatsoberhäupter unterschiedlichster politischer Lager und so viele Wirtschaftsvertretende klar und deutlich vor der Biodiversitätskrise gewarnt. UNO-Generalsekretär Antonio Gutierrez warnte sogar davor, dass die Menschheit eine «Weapon of Mass Extinction», eine Massenaussterbenswaffe geworden sei. Der Erhalt der Biodiversität ist heute nicht mehr das Thema einiger grüner Splittergruppen und sogenannter Gutmenschen, sondern er ist als unverzichtbare Notwendigkeit für Gesellschaft und Wirtschaft breit anerkannt.
In manchen Schweizer Medien jedoch war nach der Verabschiedung des KMGBF nicht so sehr die Biodiversitätskrise Thema, sondern vielmehr der Widerstand gegen das 30 %-Schutzgebietsziel. Dieses sieht aufgrund der klaren wissenschaftlichen Evidenz vor, dass mindestens 30 % der weltweiten Land- und Meeresflächen bis 2030 unter Schutz gestellt werden oder die Biodiversität mit anderen wirksamen Massnahmen zu erhalten ist. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht nicht erstaunlich, dass die Umsetzung des KMGBF in der Schweiz bisher wenig klar ist.
Das ist allerdings bedauerlich, denn viele der 23 Kunming-Montreal-Ziele sind für die Schweiz von grosser Bedeutung. Ziel 2 sieht zum Beispiel vor, 30 % der degradierten Ökosysteme wiederherzustellen. Die Schweiz hat einen sehr hohen Anteil an zerstörten Ökosystemen. Deren Wiederherstellung muss deshalb hierzulande höchste Priorität erhalten (siehe auch Seite 18).
Ziel 3 ist das bereits breit diskutierte 30 %-Schutzgebietsziel. Auch hier zeigt sich: Die Schweiz steht mit ihren Schutzgebieten, die weniger als 11 % der Landesfläche ausmachen und zudem oftmals noch ungenügende Qualität aufweisen, in Europa in jeder Hinsicht als Schlusslicht da. Hier braucht es entschiedene Massnahmen – nicht für die Befriedigung eines statistischen 30 %-Ziels, sondern um den Zustand der Ökosysteme und der Populationen zahlreicher gefährdeter Arten wirksam zu verbessern.
Die Schweiz ist kein Musterknabe
Ziel 4 verlangt dringende Massnahmen, um das anthropogene Aussterben bedrohter Arten bis 2030 zu stoppen und zur Erholung und zum Schutz von Arten beizutragen. Was bedeutet dies für die Schweiz? Sie gehört zu den Ländern mit den längsten Roten Listen aller OECD-Länder. Mehr als ein Drittel aller Arten sind in der Schweiz gefährdet. Dies hängt u. a. mit dem hohen Anteil zerstörter Ökosysteme (vgl. Ziel 2) sowie der ungenügenden Qualität und Fläche der Schutzgebiete (vgl. Ziel 3) zusammen. Entsprechend hat die Schweiz auch hier einen sehr hohen Handlungsbedarf. Massnahmen zugunsten von Ziel 2 und Ziel 3 sowie auch die nachhaltige Nutzung auf der ganzen Fläche (vgl. Ziel 10) können hier einen wichtigen Beitrag leisten. Zum Ziel 4 gehört aber vor allem auch die spezifische Artenförderung dazu, die in der Schweiz deutlich verstärkt werden muss.
Ziel 7 wiederum betrifft die Umweltverschmutzung. Deren negativen Auswirkungen und Risiken müssen bis 2030 auf ein für die biologische Vielfalt und die Ökosystemfunktionen unschädliches Niveau gesenkt werden. Einer der für die Biodiversität schädlichsten Stoffe ist dabei der Stickstoff. Die massive Überdüngung zahlreicher Ökosysteme über den Eintrag von pflanzenverfügbarem Stickstoff beeinträchtigt die Biodiversität stark. Auch hier hat die Schweiz einen sehr grossen Handlungsbedarf.
Ziel 10 fordert, dass Land- und Forstwirtschaft nachhaltig gestaltet werden. Land- und forstwirtschaftlich genutzte Flächen machen mehr als die Hälfte unseres Landes aus. Allein schon deshalb kommt diesem Ziel eine herausragende Bedeutung zu. Zudem stellt die intensive Landwirtschaft in der Schweiz einen der Hauptbedrohungsfaktoren für die Biodiversität dar. Es sei an dieser Stelle wiederholt: Das hängt nicht an den Bäuerinnen und Bauern, von denen viele eine grosse Offenheit für das Thema Biodiversität zeigen, sondern an den politischen Rahmenbedingungen. Es gilt deshalb bei der Agrarpolitik und ihren vielen biodiversitätsschädigenden Subventionen anzusetzen.
Auch die hier nicht einzeln aufgeführten Ziele sind mehrheitlich von Bedeutung für die Schweiz und ihre Biodiversität. Deshalb gilt es, rasch die Umsetzung in der Schweiz zu planen.
Unser Land braucht endlich einen wirksamen Aktionsplan
Das wichtigste Instrument für die Umsetzung des globalen Zielrahmens ist in den meisten Ländern eine nationale Biodiversitätsstrategie mit zugehörigem Aktionsplan. Dies war bereits beim vorhergehenden Zielrahmen, den sogenannten Aichi-Zielen, der Fall und ist im KMGBF wiederum vorgesehen.
Die Schweiz hat sich bekanntlich erst 2017, also sieben Jahre nach Verabschiedung der Aichi-Ziele, einen Aktionsplan gegeben. Und dieser Aktionsplan wurde von NGOs und Wissenschaft unisono als ungenügend eingestuft. Im Juni 2023 hat der Bundesrat nun eine Wirkungsanalyse zum Aktionsplan publiziert. Wer sich die Mühe macht, hinter die oftmals ausschweifenden Formulierungen zu schauen, muss schockiert sein. Nicht einmal die Ziele des ungenügenden Aktionsplans wurden erreicht. Statt dieses ernüchternde Fazit zu ziehen, wurden im Nachhinein die Ziele von mehreren Bereichen des Aktionsplans reduziert. So konnte rapportiert werden, die Projekte seien weitgehend auf Kurs.
Hier ist dringend mehr Ehrlichkeit gefragt. Die Verwaltung muss sich endlich eingestehen, wie völlig ungenügend die Anstrengungen der offiziellen Schweiz zum Schutz der Biodiversität sind. Erst die Anerkennung der bisherigen, absolut vernichtenden Bilanz ermöglicht den notwendigen Neustart. Die Umsetzung der KMGBF und damit der Schutz unserer Lebensgrundlagen ist mit einem massiv verstärkten Aktionsplan und einer entsprechenden Gewichtung der Biodiversität in allen Sektoren und Politikbereichen möglich.
Dass es ginge, zeigen zahlreiche regionale Projekte, seien dies Projekte von BirdLife, der Kantone oder anderer Akteure. Auf diesen positiven Projekten gilt es aufzubauen.
Dr. Raffael Ayé ist der Geschäftsführer von BirdLife Schweiz.
Der auch von der Schweiz unterzeichnete Kunming-Montreal-Zielrahmen für die Erhaltung der Biodiversität besteht aus 23 Handlungszielen. Doch wie kann die Schweiz diese Ziele erreichen, und wo steht sie bei der Umsetzung? Damit hat sich neben BirdLife Schweiz auch das renommierte Beratungsunternehmen EBP Schweiz (ehemals Ernst Basler & Partner) befasst. In einer neuen umfassenden Studie im Auftrag von BirdLife fasst es die Ergebnisse zusammen.
Das Fazit der EBP-Studie ist klar: Um die Ziele der Welt-Biodiversitätskonferenz von Montreal zu erreichen, muss sich die Schweiz mächtig ins Zeug legen. Damit reiht sich EBP Schweiz ein in die immer stärker werdenden Stimmen aus der Wirtschaft, wie jene des World Economic Forum, von Price Waterhouse Coopers, McKinsey oder SwissRe, die auf die grosse Bedeutung der Biodiversität als unsere Lebensgrundlage aufmerksam machen.
Um herauszufinden, wo die Schweiz in Sachen Biodiversität steht, haben die Studienautoren sowohl die Indikatoren für den Zustand der Biodiversität untersucht als auch den Stand der gesetzlichen Grundlagen. EBP zeigt auf, dass die Naturschutzinteressen beim Aushandlungsprozess mit anderen Interessen immer wieder unterliegen. Dies, weil bestehende Gesetze zu wenig konsequent umgesetzt werden oder die entsprechenden Ressourcen fehlen. Der Umfang besonders wertvoller Lebensräume veränderte sich bislang kaum, obwohl international ein Ziel von 30 % Schutzgebieten beschlossen wurde. Die Studie stellt zudem fest, dass «die Anwendung biodiversitätsfreundlicher Praktiken» in der Land- und Forstwirtschaft «erheblich vergrössert werden sollte» (siehe auch Haupttext). Und: Damit Unternehmen ihre negativen Einflüsse auf die biologische Vielfalt vermindern können, seien «rechtzeitige und klare regulatorische Vorgaben» nötig. Jan Schudel
Globaler Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal – Umsetzung durch die Schweiz. EBP Schweiz AG, 2023. 89 Seiten (Veröffentlichung folgt)
Die Schweiz muss sich mächtig ins Zeug legen