Der Reiher lässt das Mausen nicht

Graureiher auf Nahrungssuche. Graureiher fressen hauptsächlich Fische, meint man gemeinhin. Dass sie aber auch Unmengen an Mäusen vertilgen, konnte der Naturfotograf Alain Saunier fotografisch festhalten.


Alain Saunier

05.12.2011,

Grandval BE, 26. Juni 2011, 8 Uhr. Auf meiner täglichen Morgenrunde entdecke ich fünf Graureiher, die sich auf einer gemähten Wiese versammelt haben. Sie sind, im Gegensatz zu sonst, nicht besonders scheu. Ich halte mein Auto etwas entfernt an, tarne die Scheiben mit einem Netz und hole langsam mein Teleobjektiv hervor. Sicher machen sich die Vögel bei der kleinsten Bewegung davon. Weit gefehlt: Sie sind zu beschäftigt damit, nach Feldmäusen Ausschau zu halten. Diese kommen hier offensichtlich zahlreich vor. Einem erfolgreichen Fang folgt sogleich ein zweiter.

Diesmal bin ich bereit und fokussiere auf einen Jungvogel, der sich anschleicht. Den Oberkörper in der Horizontalen, den Hals s-förmig gekrümmt, den Kopf gestreckt, den Blick starr. So nähert er sich in Zeitlupe, erstarrt, dann macht er langsam noch einen Schritt vorwärts. Nun zieht er den Hals zurück, bereit zuzuschlagen. Warten... und zuschlagen!

Eine Feldmaus zappelt verzweifelt, niedergestochen vom Hieb des Schnabels. Das kümmert den Reiher nicht, er schnappt sie mit einer kurzen, präzisen Bewegung. Einmal, zweimal, er richtet die Beute aus, legt sie einen Moment auf den Boden und nimmt sie dann auf, um sie mit offenem Schnabel und aufgeblähter Kehle zu schlucken. Langsam rutscht das Opfer nach unten. Der Vogel schüttelt den Kopf, öffnet und schliesst den Schnabel mit ausgestreckter Zunge und macht sich dann erneut auf die Jagd.

Während einer Stunde wird der Schmaus fortgesetzt. Ich beobachte 14 Fänge – vielleicht sind mir in der Hitze des Gefechts auch noch welche entgangen. Wie immer finde ich mich bald mit Serien von Bildern wieder, total 256 Fotos, von denen ich 110 für gut befinde und speichere. Mal sehen, wie viele nach einer seriösen Triage noch übrig bleiben, wenn der Adrenalinspiegel wieder auf sein normales Niveau gesunken ist. 

Graureiher AS44240
© Alain Saunier
Graureiher AS44247
© Alain Saunier
Graureiher AS44263
© Alain Saunier
Graureiher AS44265
© Alain Saunier
Graureiher AS43956
Blitzschnell zupacken, Beute platzieren und dann als Ganzes schlucken: Graureiher sind geschickte Mäusefänger. © Alain Saunier

 
Mausen will gelernt sein


Interaktionen zwischen den Individuen sind selten. Zweimal beobachte ich einen Jungvogel, der offenbar unbeholfener ist als die anderen. Er greift einen Altvogel an, um ihm eine Feldmaus abzuluchsen, die dieser eben gefangen hat. Ohne Erfolg. Kurz darauf fängt er selber eine wohlgenährte Feldmaus. Doch er hat Schwierigkeiten, sie zu verschlingen, da er unfähig ist, sie korrekt zu positionieren. Erst nach einer Serie von Versuchen gelingt es ihm. Er ist offensichtlich ein Anfänger. 

In Crémines BE finde ich die Graureiher in den folgenden Tagen auf einer anderen frisch gemähten Wiese wieder. Diesmal sind sie in Begleitung von bis zu 12 Rot- und Schwarzmilanen, einem Mäusebussard wie auch – welch Glückstreffer – einem jungen Fuchs, der maust und gleich darauf verschwindet.

Was mich bei den Graureihern am meisten beeindruckt, ist die Erfolgsquote ihrer Angriffe: Praktisch jede Maus, die sie entdecken, erwischen sie auch. Und eine andere erstaunliche Tatsache: Ein sehr geschickter Altvogel, sehr treffsicher, konnte die Beute nicht mehr verschlingen, da Magen und Hals schon zu voll waren. Dennoch setzte er die Jagd unbeirrt fort.

Der Graureiher hat sich in jüngster Zeit zu einem Kulturfolger entwickelt und ist zu einem fleissigen Helfer in der Landwirtschaft geworden. Mäusepopulationen müssen sich vor ihm offensichtlich in Acht nehmen.

Alain Saunier ist pensionierter Lehrer, Buchautor und Naturfotograf; 
www.alainsaunier.com.

Originaltext französisch; Übersetzung: Lisa Bose

 

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