Biodiversität: in jeder Hinsicht schützenswert

Ökosystemleistungen. Um die Biodiversität zu schützen, braucht es eigentlich gar keine Begründung: Sie ist um ihrer selbst willen erhaltenswert. Doch das Wissen wächst, dass das Wohlergehen der Menschen von der Biodiversität und von funktionierenden Ökosystemen abhängt. Der Wert der Ökosysteme – auch in ökonomischer Hinsicht – hat sich zu einem wichtigen zusätzlichen Argument für den Schutz der Biodiversität entwickelt.


Es ist ein herrliches Schauspiel. Am Übergang vom strukturreichen Wald zum Saum mit vielfältigem Blütenangebot flattern die Schmetterlinge zu Dutzenden umher. Mehrere Kaisermäntel streiten sich um die Blüten eines Wasserdosts. Immer wieder setzt sich ein C-Falter dazu. Plötzlich fliegen alle auf, weil ein Admiral eintrifft, der an den nektarreichen Blüten saugen will. Fast beschleicht einen das Gefühl, die Schmetterlinge gaukelten aus purer Lebenslust von Blume zu Blume. Dem farbenfrohen Treiben könnte man stundenlang zusehen. 

Szenenwechsel zu den Internetseiten des Bundesamts für Umwelt BAFU. Dieses Amt nennt als erstes Ziel seiner Tätigkeit die langfristige Erhaltung und nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen wie Boden, Wasser, Wald, Luft, Klima, biologische und landschaftliche Vielfalt. Dieses Verständnis der Natur als «natürliche Ressource» setzt einen Nutzen für den Menschen und eine Nutzung durch ihn voraus. Was für ein Kontrast – eben noch die grosse Freude am Beobachten des bunten Treibens draussen und hier die nüchterne Nutzen-Optik. Hat denn die Natur nur einen Wert, wenn sie eine «Ressource» ist? Oder hat sie auch einen Eigenwert, der unabhängig von jeglicher Nutzung durch den Menschen existiert und den Schutz um ihrer selbst willen gebietet?

Die Frage ist uralt. Schon seit mehr als 2000 Jahren denken Philosophen über Gut und Böse nach. Einzelne forderten dabei nicht nur einen rücksichtsvollen Umgang mit den Mitmenschen, sondern auch mit Tieren und Pflanzen. Doch erst die Umweltethik, die vor gut 30 Jahren entstand, ging das Thema systematisch an. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, wem ein Eigenwert zuzuschreiben ist, wer also um seiner oder ihrer selbst willen rücksichtsvoll behandelt werden soll. Ist es nur der Mensch? Haben auch die Tiere und Pflanzen einen Eigenwert? Oder sogar die ganze belebte und unbelebte Natur?

Der letztgenannte und neuste Ansatz ist jener der holistischen oder umfassenden Umweltethik. Gemäss dieser haben nicht nur Organismen einen Eigenwert, sondern auch Arten, Ökosysteme, ja die ganze Biosphäre und sogar die unbelebte Natur. Beim anthropozentrischen Ansatz hingegen ist der Eigenwert den Menschen vorbehalten, moralische Verpflichtungen bestehen nur ihm gegenüber. 

Indem wir der gesamten Biodiversität einen Eigenwert zugestehen, müssen wir nicht jede Schutzmassnahme für eine Art oder einen Lebensraum mit einem Nutzen für den Menschen begründen. Die schweizerische Bundesverfassung ist in diesem Sinn sehr modern, lässt doch der Wortlaut vermuten, dass sie auf einem holistischen Ansatz basiert. So steht in Artikel 73 zur Nachhaltigkeit, «Bund und Kantone streben ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits an.» Und Artikel 74 hält fest, dass der Bund Vorschriften erlässt über den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen. Auch wenn es nicht so deklariert wird: Implizit ist damit die gesamte Natur gemeint und nicht nur jene Teile davon, die dem Menschen dienlich sind.

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Der Walliser Schwingel (Festuca valesiaca) hat die Fähigkeit, die Kanten grosser Erosionsgräben zu befestigen und damit der Erosion entgegenzuwirken. Diese Fähigkeit entfaltet sich erst so richtig unter Extrembedingungen. © Albert Krebs
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Nicht nur Honigbienen, sondern auch Solitärbienen wie die Rotpelzige Sandbiene (Andrena fulva), Schwebfliegen, Käfer und viele mehr bestäuben Wild- und Kulturpflanzen. © Albert Krebs


Zur ganzen Biodiversität Sorge tragen


Im Zusammenhang mit dem Begriff Biodiversität und der Biodiversitätskonvention wurden auch die Wertvorstellungen, die dahinter stehen, durchleuchtet. Es geht beim weltweiten Abkommen einerseits darum, die gesamte Vielfalt und Verschiedenartigkeit des Lebens auf der Erde zu bewahren, unabhängig davon, ob der Mensch von ihr profitiert oder nicht. Andererseits ist klar dargelegt, dass die Biodiversität dem Menschen zugute kommt und auch deshalb schützenswert ist. Dieses Bekenntnis zu beidem, Eigen- wie Nutzwert der Biodiversität, hat entscheidend zum Erfolg des Übereinkommens zur biologischen Vielfalt beigetragen: 168 Staaten sowie die Europäische Union haben es bis heute ratifiziert. 

Die Strategie Biodiversität Schweiz (SBS), die der Bundesrat am 25. April 2012 verabschiedet hat, hat diese Dualität aufgenommen. Sie anerkennt einerseits ganz im Sinn der Nachhaltigkeitsbestimmung der Bundesverfassung den Eigenwert der Natur und zielt darauf ab, die gesamte Vielfalt des Lebens zu erhalten und zu fördern. Also auch den seltenen Erdbockkäfer und das Kalk-Schneetälchen, deren Verschwinden wohl kaum bemerkt und uns Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz wenig beeinträchtigen würde. 

Andererseits stellt die SBS auch klar, dass die Biodiversität eine zentrale Lebensgrundlage des Menschen ist und damit einen Nutzwert hat. «Die Biodiversität erbringt unverzichtbare Leistungen für Gesellschaft und Wirtschaft. Die Vielfalt dieser Leistungen ist immens», sagt der Bundesrat wörtlich. Das sind wichtige zusätzliche Argumente, weshalb die Biodiversität langfristig zu erhalten ist. 

Bei einem Grossteil der Arten sind allerdings weder die Rolle im Ökosystem noch das Nutzungspotenzial untersucht. Trotz dieser Wissenslücken wurde seltenen Arten bisher eine grössere Bedeutung für die Funktionsweise der Ökosysteme weitgehend abgesprochen. Bei der kürzlichen Auswertung umfangreicher Datensätze aus verschiedenen Ökosystemen stellten David Mouillot von der Universität Montpelllier (F) und seine Kollegen aber fest, dass seltene Tier- und Pflanzenarten oft Kombinationen von Eigenschaften besitzen, über die andere Arten im Lebensraum kaum verfügen. Seltene Arten könnten deshalb insbesondere bei Umweltveränderungen für das Funktionieren der Ökosysteme eine wichtige Rolle spielen.

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Erweiterte Flussräume und Auen schützen vor Überflutung, wie das jüngste Hochwasser anfangs Juni 2013 an der renaturierten Aare bei Rupperswil AG zeigt. © Oekovision GmbH, 8967 Widen
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Hochmoore wie das Fröscheseeli im Kanton Obwalden wirken als Wasser- und CO2-Speicher. © Albert Krebs


Der Begriff der Ökosystemleistungen wird lanciert


Im Jahr 2000 forderte UNO-Generalsekretär Kofi Annan eine umfassende Analyse des Zustands und der Trends der Ökosysteme der Welt und der Auswirkungen dieser Veränderungen auf das Wohlergehen der Menschen. 2005 erschienen die Ergebnisse dieses «Millennium Ecosystem Assessments» (MEA), an dem sich mehr als 1300 Wissenschafterinnen und Experten beteiligt hatten. Ihre Ergebnisse waren alarmierend: Um die wachsende Nachfrage nach Nahrung, Süsswasser, Holz, Textilfasern und Brennstoff zu decken, habe die Menschheit in den letzten 50 Jahren die Ökosysteme rascher und intensiver verändert als in jeder anderen vergleichbaren Periode der Menschheitsgeschichte, so die Wissenschafter. Damit verbunden sei ein substanzieller und weitgehend irreversibler Verlust der Biodiversität. Diese Entwicklung habe zwar mindestens vorübergehend das Wohlergehen der Menschen verbessert und zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Doch weil damit die Leistungen vieler Ökosysteme beeinträchtigt wurden, seien damit auch steigende Kosten verbunden. Bei Bevölkerungsgruppen, deren natürliche Lebensgrundlagen zerstört wurden, habe sich die Armut verschlimmert. Die Autoren warnten, dass der Nutzen, den zukünftige Generationen von Ökosystemen haben, deutlich geringer ausfallen werde, sollten diese Probleme nicht gelöst werden. 

Das MEA führte den Begriff der Ökosystemleistungen ein und bezeichnet damit die Beiträge der Ökosysteme zum Wohlergehen der Menschen.  Sie lassen sich in vier Kategorien einordnen: Versorgungsleistungen wie die Produktion von Nahrungsmitteln oder Baumaterialien; Regulierungsleistungen wie der Schutz vor Überflutungen und Krankheiten, die Bestäubung oder der Abbau von Schadstoffen; kulturelle Leistungen wie Erholung und ästhetisches Vergnügen; unterstützende Leistungen wie die Bodenbildung oder die Aufrechterhaltung der Nährstoffkreisläufe. 

Ökosystemleistungen werden inzwischen intensiv erforscht. Dabei stehen vor allem zwei Fragenkomplexe im Vordergrund. Erstens: Wie wirkt sich der Verlust der Biodiversität auf die Funktionsweise der Ökosysteme und damit auch auf ihre Leistungen aus? Und zweitens: Wie sind Ökosystemleistungen zu messen und (ökonomisch) zu bewerten? Zur ersten Frage erschien 2012 eine umfassende  Zusammenstellung aus dem internationalen Forschungsprogramm DIVERSITAS, für welche die Wissenschafter unter Leitung von Bradley J. Cardinale mehr als 1700 Publikationen aus 20 Jahren Forschung zum Thema analysierten. Sie wiesen nach, dass eine Reduktion der Biodiversität die Effizienz herabsetzt, mit welcher Organismen in einem Ökosystem Ressourcen aufnehmen, recyclieren und Biomasse produzieren. Weiter besteht zunehmende Klarheit, dass Biodiversität die zeitliche Stabilität von Ökosystemen erhöht. Vielfältigere Ökosysteme sind zudem produktiver, weil sie Schlüsselarten enthalten, die einen starken Einfluss auf die Produktivität haben. Und: Der Einfluss des Biodiversitätsverlusts auf ökologische Prozesse dürfte ähnlich gross sein wie jener anderer globaler Veränderungen wie zum Beispiel des Klimawandels.

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Nützlinge wie Regenwürmer (im Bild Allolobophora rosea) unterstützen die Produktion von Nahrungs- und Futtermitteln. © Lukas Pfiffner
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Ohne Biodiversität kann weder Gerste noch irgendeine andere Feldfrucht gedeihen. © Sönke Morsch
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Für Nützlinge sind Buntbrachen wichtige Lebensräume. © SVS


Der zweite Fragenkomplex wird unter anderem im Rahmen des globalen Programms «The Economics of Ecosystems and Biodiversity» (TEEB) untersucht, bei dem der ökonomische Nutzen der Biodiversität und der Ökosysteme im Zentrum steht. TEEB beruht auf der Initiative der Umweltminister der G8+5 Staaten von 2007 und wurde durch das Deutsche Umweltministerium und die Europäische Kommission lanciert. Im Rahmen des Programms sind Zahlen von erstaunlicher Grössenordnung herausgekommen. So wird der ökonomische Gesamtwert der Bestäubung durch Insekten für 2005 weltweit auf 153 Milliarden Euro geschätzt, was 9,5% des globalen landwirtschaftlichen Ertrags entsprach. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Studie der Schweizer Forschungsanstalt Agroscope Liebefeld-Posieux von 2005 zur Bestäubungsleistung von Honigbienen. Sie ergab, dass ein Bienenstock jährlich indirekt 1260 Franken einbringt, indem die Bienen Obstblüten bestäuben. Am Honig eines Bienenstocks hingegen verdient der Imker «nur»  255 Franken. 


Die neue SVS-Broschüre


Der Ansatz der Ökosystemleistungen ist eine noch junge wissenschaftliche Disziplin. Dennoch liegt bereits fast unüberblickbar viel Material zum Thema vor. Zudem will BirdLife International mit seiner neuen Strategie seine Partner unterstützen, die Ökosystemleistungen besser sichtbar zu machen und sie als zusätzliches Argument für den Schutz der Biodiversität einzusetzen. Der SVS/BirdLife Schweiz stellt deshalb das bestehende Wissen in einer populären Broschüre zusammen, die noch diesen Herbst verbreitet wird. Damit will der SVS auf das grosse Potenzial für die Argumentation mit Ökosystemleistungen hinweisen, gleichzeitig aber auch den übergeordneten Ansatz des Eigenwerts der Natur im Auge behalten.

Die neue Broschüre zu den Ökosystemleistungen wird die dritte sein in der Reihe der populären Grundlagen, die der SVS/BirdLife Schweiz zur Biodiversität erarbeitet. 2009 erschien das zusammenfassende Heft «Biodiversität: Vielfalt ist Reichtum». Es war die Grundlage für unzählige Aktivitäten im Internationalen Jahr der Biodiversität 2010 und hat den Begriff der Biodiversität in der Schweiz erst richtig bekannt gemacht. Im Jahr 2011 folgte die Broschüre «Biodiversitätsverlust und Konsequenzen für die Schweiz». Sie zeigte den bedenklichen Zustand der biologischen Vielfalt in der Schweiz, räumte mit dem Mythos des naturschützerischen Musterlandes Schweiz auf und machte den Handlungsbedarf klar. In der neusten Broschüre geht es nun darum, die Bedeutung der Biodiversität anhand der Ökosystemleistungen herauszustreichen. 

Die neue Broschüre wird rechtzeitig für die Fertigstellung und Umsetzung des Aktionsplans der Strategie Biodiversität Schweiz erscheinen. Es ist geplant, dass der Bundesrat den Aktionsplan im Mai 2014 verabschiedet. Dann bleiben gerade noch sechs Jahre, um die internationalen, auch für die Schweiz verpflichtenden Biodiversitätsziele 2020 zu erreichen. Wenn das gelingen soll, müssen Politik und Öffentlichkeit rasch dafür gewonnen werden. Die SVS-Broschüre zu den Ökosystemleistungen kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. 


Biodiversität: auf alle Fälle schützenswert


Zurück zu den Schmetterlingen am Waldrand. Dass sie erhaltenswert sind, ist wohl unbestritten. Doch weshalb? Wegen ihres Nutzwerts oder wegen ihres Eigenwerts? Wohl wegen beidem. Indem die Falter uns erfreuen und faszinieren, profitieren wir von ihnen; im Sinn der Ökosystemleistungen-Systematik handelt es sich dabei um eine kulturelle Leistung. Zudem dürften Kaisermantel und Co. bei der Bestäubung des Wasserdosts mithelfen – eine regulierende Leistung. 

Doch auch wenn all dies nicht wäre, wenn wir Menschen in keiner Art und Weise von den Schmetterlingen profitieren würden, ja wenn wir nicht einmal um ihre Existenz wüssten – schützenswert wären sie trotzdem. Schlicht und einfach deshalb, weil sie existieren.

 

Werner Müller ist Geschäftsführer des Schweizer Vogelschutzes SVS/BirdLife Schweiz. Dr. Daniela Pauli ist Redaktorin von Ornis und Geschäftsleiterin des Forum Biodiversität Schweiz der SCNAT.

Millennium Ecosystem Assessment (2005). Ecosystems and Human Well-being: Synthesis. Island Press, Washington, DC. www.unep.org/maweb/ --- TEEB (2010): Die Ökonomie von Ökosystemen und Biodiversität: Die ökonomische Bedeutung der Natur in Entscheidungsprozesse integrieren. Ansatz, Schlussfolgerungen und Empfehlungen von TEEB – eine Synthese. www.teebweb.org

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