Von Perle zu Perle

Das Reusstal erleben. Entlang der Reuss zwischen Sins und Bremgarten AG reihen sich zahlreiche kleine und grosse Naturschutzgebiete aneinander. Kuckuck, Pirol, Baumfalke und Kiebitz brüten in den Auenwäldern und Mooren. Viele der heutigen Naturperlen wurden während der Reusstalsanierung vor etwa 50 Jahren oder danach renaturiert. Zeit, der Reussebene einen Besuch abzustatten. Und auf der Reise von der Maschwander Allmend bis zum Flachsee unweigerlich in Ferienstimmung zu geraten.


Am schönsten ist es abends, wenn die Schatten der knorrigen Eichen länger werden und sich Wolkenmonster über den orange bis lila gefärbten Himmel schieben. Ich stehe in der beinahe menschenleeren Maschwander Allmend und lausche. Ein Sumpfrohrsänger spottet links. Ein Kuckuck ruft von hinten. Feldschwirl und Grillen zirpen um die Wette. Ein Reh bellt. Einige Abende zuvor gab es hier einen Wachtelkönig und eine Zwergohreule zu hören. Ich habe beide Seltenheiten verpasst, gebe mich aber auch mit dem abendlichen Klappern der Störche zufrieden, dem zaghaft einsetzenden Konzert der Laubfrösche nach Einbruch der Nacht. 

Der Rundgang durch die weite Moorlandschaft von nationaler Bedeutung beschert an diesem Abend noch drei Fuchsfamilien und eine junge Waldohreule, die in einer Birke beständig von einem Bein auf das andere hüpft und fiept. Am Horizont stehen unverrückbar der Pilatus und die Rigi. Auf den Bergspitzen flackern nun die Lichter der Bahnstationen. Als ich zum Velo zurückmarschiere, sitzen zwei Feldhasen am Strassenrand. 

Ich habe mir vorgenommen, alle Naturschutzgebiete der Reussebene von der Maschwander Allmend bis zum Flachsee zu besuchen – ein spannendes Projekt, wie sich herausstellt. Auf einer Länge von 14 Kilometern gibt es in drei Kantonen unzählige Naturgebiete und -gebietchen zu erkunden. Die Reuss selber ist fast auf der ganzen Strecke von verwachsenem Auenwald und Ried gesäumt. 

RE BS 190613 03
RE BS Schwertlilie
RE BS Rottenschwil Moos
RE Pirol MS
Zwei der grössten Naturperlen in der Reussebene: die Maschwander Allmend und das Rottenschwiler Moos. Im Ried wachsen tausende Sibirische Schwert­lilien. In den Auenwäldern brütet der Pirol. © Oekovision GmbH (3), Mathias Schäf

Grosse feuchte Nager

Tags darauf besichtige ich bei Maschwanden nochmals die vielen Biberspuren an der Lorze. Man kann sich das grosse Nagetier leicht vorstellen, wie es sich nachts mit gelbem Gebiss an den Weiden zu schaffen macht. Im selben Gebiet leben Skabiosen-Scheckenfalter, Sumpfschrecke und Grüne Keiljungfer – drei der Zielarten, die in der Maschwander Allmend besonders gefördert werden. Die Naturschutzgebiete liegen in den Kantonen Zug und Zürich und sind zusammen 127 Hektaren gross. Sie bestehen aus Ried, Auenwald, alten Einzelbäumen, Buschwerk, schilfbestandenen Kanälen und der mäandrierenden Lorze. Die weite naturnahe Landschaft führt vor Augen, wie es vor einigen hundert Jahren in den Flusstälern des Mittellandes noch ausgesehen haben muss.

Gegen Abend wechsle ich auf die westliche Reuss-Seite, in den Aargau. Ein junger, ungemein dünner Fuchs steht auf dem Hochwasserdamm und weiss nicht so recht, ob er fliehen soll. An der Reuss ruft während einer Viertelstunde ein Eisvogel. Gleich angrenzend an den Damm liegt der Schoren Schachen, ein 23 Hektaren gross­es Schutzgebiet mit Teich, Ried und Flutmulden. Dutzende Mehlschwalben kurven über das Wasser, und auch die Büsche sind voller Leben: Junge Stare schwatzen miteinander. Man sieht dem kleinen Naturparadies nicht an, dass Teile davon erst vor wenigen Jahrzehnten renaturiert wurden. 

Die Reussebene war einst eine sumpfige Auenlandschaft, in der sich der Fluss immer wieder neue Wege suchte. Der Mensch versuchte seit dem Mittelalter, ihn in die Schranken zu weisen. Sukzessive schnitt er Flussschlingen ab und begradigte den Reusslauf immer mehr. Um 1860 baute er die ersten Schutzdämme, welche die häufigen Überschwemmungen verhindern sollten. Er gewann dadurch auch fruchtbares Kulturland, zerstörte aber viele Auen- und Riedflächen. 

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Einblick ins Naturschutzgebiet Siebeneiche. © Oekovision GmbH

Grossflächige «Sanierung» der Ebene

Weil die Dämme nicht hielten, was sie versprachen, kam es in den 1970er- und 80er-Jahren zur sogenannten Reusstalsanierung. Entlang der Reuss entstanden neue, höhere Schutzdämme, während man die Ebene mittels Drainagen und Kanälen entwässerte. Dabei wurden weitere Naturflächen zerstört; es kamen allerdings auch neue hinzu. Der Naturschutz wurde von Beginn weg einbezogen; als Ersatz für die Entwässerungen erschuf der Kanton Aargau zum Beispiel den Flachsee. Gleichzeitig renaturierte er auch den Schoren Schachen: Der Teich wurde ausgehoben, Flutmulden für die Amphibien und Libellen kamen hinzu. 

Ein ähnliches Bild zeigt sich weiter nördlich in der Sempermatt und dem benachbarten Gebiet Siebeneiche. Erneut Teiche. Schilf. Seggen. Alte Bäume. Drei Störche jagen im 30 Hektaren grossen Sumpf. Ein Grauschnäpper schnappt immer wieder flatternd nach Insekten. Es blühen Betonien und Mädesüss. Auch diese Natur-Insel im Kulturland wurde in den 1980er-Jahren aufgewertet. Einblicke sind von einem erhöhten Beobachtungspunkt aus möglich. Die Chancen, einen Baumfalken, seltene Libellen oder Orchideen zu entdecken, stehen gut. 

Ich ziehe weiter, und stehe eines Abends wieder an der lautlos ziehenden Reuss, im Gebiet Dorfrüti nördlich der Brücke bei Ottenbach ZH. Hier beträgt die Distanz vom Hochwasserdamm zum Fluss stellenweise über 300 Meter. Wilder Auenwald, Ried und Amphibien-Weiher prägen das Bild. Letztere wurden 1996 angelegt. Heute leben hier Kreuzkröte und Gelbbauchunke; Orchideen bringen Farbe ins Ried, so Helm­orchis, Kleines Knabenkraut oder Mückenhandwurz. 

Einer der Wege führt dem Fluss entlang durch den sumpfigen Wald, und urplötzlich stellt sich ein Ferien­gefühl ein. Bin ich hier noch in der Schweiz? Mücken­gesirre. Ein Grauspecht ruft – einer der letzten seiner Art, auch hier an der Reuss. Der lehmige Boden federt unter den Füssen. Wind kommt auf; Fledermäuse schwirren nun übers Wasser, Frösche quaken, abgestorbene Bäume zeichnen bizarre Silhouetten in den Abendhimmel. Sie sehen aus wie Wesen aus Mittelerde.

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Die Reussebene ist äusserst reich an Orchideen. Bild: Brand-Knabenkraut. © Beat Wartmann

Natur und Nichtnatur, sauber getrennt

Beim Naturschutzgebiet Halbmond zwischen Aristau und Rottenschwil wird die Lage langsam unübersichtlich. Erneut Feuchtwiesen, Tümpel, ein Kanal. Ein Teil des Riedes ist eingezäunt, hier stapfen manchmal Wasserbüffel herum. Sie ersetzen die Mähmaschine, fressen Schilf und schaffen wertvolle Strukturen. Auf der anderen Wegseite Maisfelder, Hochleistungskühe. Ich verliere den Überblick über die Reussebene, dieses engmaschige Netz aus Landwirtschaft und Naturschutz, jeweils sauber abgetrennt durch Pfosten oder Wege. Vielleicht ist das eines der Hauptergebnisse der Reusstalsanierung: dass jetzt sauber getrennt ist zwischen Natur und Nicht-Natur, während früher alles ein bisschen überall stattfand. 

Diese Landschaftsveränderungen im letzten Jahrhundert, verbunden mit einer immer intensiveren Landwirtschaft, widerspiegeln sich in der Vogelwelt der Reussebene. Mit 236 bereits festgestellten Arten ist sie sehr divers, 104 davon haben in den letzten 20 Jahren im Gebiet gebrütet. Gleichzeitig ist aber auch hier – wie überall im Mittelland – der Niedergang der Bodenbrüter zu beklagen. Braunkehlchen, Grosser Brachvogel, Bekassine, Grauammer, Baumpieper, Wachtel – sie alle sind in den letzten Jahrzehnten als Brutvögel im Reusstal ausgestorben. Ebenso der Raubwürger, der nur noch im Winter zuverlässig aufkreuzt. Die Feldlerche wird die nächste sein, die verschwindet: Wurden 1995 noch 27 Reviere geschätzt, sind es jetzt noch einige wenige. All diese Bodenbrüter sind auf grosse naturnahe Flächen angewiesen, oft im Übergang von Feuchtgebieten zu vielfältigem Kulturland. Die Reuss­ebene war vor einem halben Jahrhundert noch ein Paradebeispiel für diese enge Verzahnung von Natur und extensiver Landbewirtschaftung. Dann rüsteten auch hier die Bauern auf, wie es die Agrarpolitik verlangte. 

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Karten des Reusstals. © Stefan Haller

Im Reich des Laubfroschs

Glücklicherweise wurde bei der grossen Reusstal­sanierung wie erwähnt beachtet, dass Naturschutz­gebiete ebenso ihre Berechtigung haben wie das Kulturland. Und dank dem Engagement der Kantone verbesserte sich seither die Qualität vieler Naturschutzflächen. Das zahlt sich aus: In den letzten 20 Jahren hat der Laubfrosch die Ebene in Windeseile zurückerobert. Der Kreuzkröte geht es nicht so schlecht, der Kiebitz brütet in einigen Gebieten. 12 Amphibienarten leben in der Reussebene. 50 Libellen­arten, darunter die seltene Zierliche Moosjungfer und der Östliche Blaupfeil. Sie profitieren auch davon, dass die Abteilung Landschaft und Gewässer des Kantons Aargau unter Mitarbeit von Landwirten viele innovative Projekte umsetzen: Sie legt neue Wasser­flächen an, extensiviert frühere Landwirtschaftsflächen, lässt Brachflächen mit Altschilf oder Altgras zu. In anderen Gebieten fehlen solche wichtigen Strukturen noch weitgehend. 

Nur wenig auszurichten gibt es gegen die Überdüngung der Moore über die Luft. Zusammen mit dem statischen Wasserhaushalt in der Ebene und dem Klimawandel trägt der übermässige Nährstoffeintrag dazu bei, dass die Vegetation immer üppiger wuchert und dadurch artenärmer wird. Auch das ist einer der Gründe, weshalb die Bodenbrüter verschwunden sind.

Abmagerungskur für das Ried

Da kommen mir der Neuntöter und der Trauerschnäpper gerade recht, die ich nun entdecke. Eine junge Grünspecht-Familie zeigt wenig Scheu: Keine zehn Meter vor mir stochern die Vögel im Gras herum. Bald darauf stehe ich beim Giriz, einem der grösseren Schutzgebiete entlang der Reuss. Ein Seitenarm des Flusses wurde 1975 eingedolt. 2005 machte die Stiftung Reusstal die Sünde rückgängig und renaturierte den Bach. Ehemals gedüngte Äcker wurden sukzessive ausgemagert und teils vom Bagger abgeschürft. Die Abmagerungskurs tat der Natur gut: Jetzt ist Riedland mit Teichen zu bewundern. Schwertlilien färben die Pfeifengraswiese Ende Mai dunkelblau.

Der Stiftung Reusstal ist viel zu verdanken, sie ist seit über 50 Jahren aktiv und unterstützt die Kantone. Mit einem Ranger-Team achtet sie darauf, dass die Störungen durch die menschlichen Besucher am oder auf dem Fluss im Rahmen bleiben und die Regeln beachtet werden. Auch kann sie immer wieder neue Flächen kaufen. Die lokalen BirdLife-Sektionen und Pro Natura sind ebenfalls an Projekten beteiligt.

Gleich neben dem Giriz befindet sich die Stille Reuss. Dem Teich in Form eines Halbkreises ist noch deutlich anzusehen, dass dies früher ein Altarm des Flusses war. An den Wochenenden umrunden zahlreiche Leute das Naturschutzgebiet. Kein Wunder – das Postauto hält gleich nebenan. Im Frühling balzen die Kiebitze, es gibt manche Libellenspezies zu entdecken. Am Ufer sonnen sich Europäische Sumpfschildkröten – wobei es auch amerikanische Schmuckschildkröten zu sehen gibt, also aufgepasst bei der Bestimmung. Im inneren Teil des Schutzgebiets wurden 2009 Teiche für den Laubfrosch und Co. angelegt. «Seitdem schaffen wir hier jedes Jahr mit dem Bagger neue Pionierflächen», erklärt Niklaus Peyer von der Stiftung Reusstal. Was früher der Fluss übernahm, muss heute die Technik nachahmen. Die Amphibien profitieren stark davon.

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Weitere Charakterarten der Reussebene: Schiefkopfschrecke und Kuckuck. © Oekovision GmbH, Ruedi Aeschlimann

Ein letzter Abstecher

Einen Besuch wert wäre nun noch die Schnäggematte mit seinem Biberwald – und das Rottenschwiler Moos. Nur von einer leicht erhöhten Plattform aus hat man einen begrenzten Einblick auf die Tümpel des 33 Hektaren gros­sen Schutzgebiets. Was hier wohl alles quakt und knarrt, blüht und flattert? Ich entscheide mich jedoch für einen letzten Abstecher an den Flachsee, wo ich mich in den Hide setze und einem Eisvogel beim Fischen zuschaue. Der Stausee wurde 1975 neu angelegt (siehe Ornis 6/14). Die Natur hat ihn in Windeseile erobert. Tausende Vögel überwintern hier jedes Jahr. Die vielen Ornithologinnen und Ornithologen, die das Gebiet an den Wochenenden besuchen, wissen es zu schätzen.

Am Flachsee geht meine Reise zu Ende. Lange hallen die Bilder nach – der Grauspecht, die Schwalben, die Hasen, die Ruhe, der tiefe Frieden an der Reuss. 

Heute weiss ich: Das Tal hat dank der Zusammenarbeit zwischen Kantonen, Gemeinden, der Stiftung Reusstal, den Naturschutzorganisationen und den Landwirten weit mehr Natur bewahren können als andere Agrar­ebenen. Dazu braucht es auch in Zukunft den steten Einsatz aller Beteiligten. 

Stefan Bachmann ist Biologe und Redaktor von Ornis.

Das Reusstal besuchen

Die Reussebene ist weitläufig und lässt sich besonders gut per Velo entdecken. Gute Startpunkte sind Rottenschwil AG und Maschwanden ZH. Die Gebiete sind teils auch mit dem Postauto gut erschlossen. Der Flachsee wurde in Ornis 6/14 vorgestellt.

Weitere Informationen zur Reussebene finden sich auf der Website der Stiftung Reusstal. In der Rubrik «Natur und Landschaft» können acht interessante Exkursionsführer zu den einzelnen Gebieten heruntergeladen werden. Dort gibt es auch Informationen zu den beiden Natur­pfaden Flachsee und Stille Reuss-Giriz.

Einen Besuch wert ist auch das umfassend renovierte Zieglerhaus in Rottenschwil. Das Naturzentrum der Stiftung Reusstal bietet eine interaktive Ausstellung und einen attraktiven Aussenbereich mit zwei Terrarien und einer Anlage für Europäische Sumpfschildkröten. Die Ausstellung ist einmal pro Monat oder nach Absprache geöffnet, der Aussenbereich ist immer zugänglich.

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