«Wir haben zusammen einiges erreicht»

Fast 42 Jahre lang hat Werner Müller BirdLife Schweiz geführt. Im Interview mit der Ornis-Redaktion erzählt er, wie sich der Naturschutz in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten verändert hat, wo der Verband erfolgreich war – und was es mit dem Eistee auf sich hat, den er fast immer dabei hat.


Werner, du hast dein ganzes Berufsleben dem Naturschutz gewidmet – eine Herkulesaufgabe, bei der man zwar bestimmt Erfolge erzielen kann, die aber wohl oft auch frustrierend ist. Welches Gefühl überwiegt schlussendlich – Freude oder Frust? 

Beides. Wir haben einiges zusammen erreicht: den Aufbau der Naturzentren etwa, aus dem eine ganze Bewegung entstanden ist. Oder die politische Arbeit für die Strategie Biodiversität. Freude hat mir vor allem die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden von BirdLife bereitet, mit dem Vorstand, den Sektionen, Kantonalverbänden und Landesorganisationen. Es ist eine Gemeinschaft, die am gleichen Ziel arbeitet. Der Frust ist: Die Situation für die Biodiversität hat sich im Kleinen verbessert, im Grossen nicht.

Welches waren aus deiner Sicht die wichtigsten Erfolge? 

2002 starteten wir mit der Artenförderung Vögel Schweiz und konnten schliesslich zum Beispiel den Steinkauz vor dem Aussterben retten. Das ist ein schöner Erfolg – doch er ist relativ. Es waren ja einst wohl weit über 1000 Steinkauzpaare, jetzt sind wir erst wieder bei 150. 

Ein schöner Erfolg ist auch die Renaturierung der 3,5 Hektaren in den Dorfwiesen im Neer­acherried vor 20 Jahren. Dort haben wir gesehen, dass es nicht reicht, Bestehendes zu schützen, wir müssen auch neue wertvolle Flächen schaffen. Vor zwei Jahren wurde die Fläche nun bereits als national bedeutendes Moor kartiert. All diese Erfolge sind aber nur punktuell. Ein richtiger Durchbruch auf nationaler Ebene ist nicht passiert.  

Was ist heute grundlegend anders im Naturschutz als in den 70er-Jahren? 

Damals gab es einen grossen Schub durch einen Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen auf dem Gebiet der Raumplanung, mit dem Auftrag an die Kantone, Schutzgebiete auszuscheiden. Als ich 1979 bei BirdLife Schweiz startete, war es meine erste Aufgabe, das Heckenjahr zu organisieren, um die Bekanntheit der Hecken zu verbessern. Damit gingen wir mit dem Naturschutz in die Fläche, ins Landwirtschaftsgebiet.

In den 1980er-Jahren kamen dann die Rothenthurminitiative mit dem Gegenvorschlag und die Biotope von nationaler Bedeutung. Dies verlieh dem Naturschutz starken Aufwind. Sogar das Jagd- und Schutzgesetz JSG, das damals verhandelt wurde, generierte eine Aufbruchstimmung für den Schutz der Wildtiere. Mit dem Konzept der Biodiversität ist die Ausrichtung in den letzten 20 Jahren breiter geworden: Es geht um unsere Lebensgrundlage. Das ist auch in der Bevölkerung angekommen. Dazu hat BirdLife einiges beigetragen.

Wie hat sich die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen verändert? 

Schon in den 1980er-Jahren gab es den «Umweltklub», der mit über 40 Organisationen sehr breit abgestützt war. Heute ist BirdLife Schweiz Kooperationspartner der Umweltallianz. Wir arbeiten aber oft auch eng mit Organisationen wie JagdSchweiz und dem Fischereiverband zusammen. Wir sprechen uns jeweils ab, wer den Lead hat bei einem Thema und haben eine gute Kultur gegenseitiger Absprachen entwickelt. Potenzial, noch mehr zusammen zu machen, gibt es trotzdem noch.

Im Vergleich zu anderen Ländern sind die Roten Listen in der Schweiz lang und die Schutzgebietsflächen besonders klein. Woran liegt das? 

Ich habe das Gefühl, es liegt etwas an der Mentalität der Schweiz. Wir meinen, wir seien überall sehr gut. Das macht uns ein wenig blind für die bestehenden Probleme. Es gibt Leute, die sagen, nach dem 2. Weltkrieg seien wir führend gewesen im Naturschutz. In den letzten paar Jahren wurde aber klar: Die Schweiz ist keine Musterschülerin. Es gab auch eine Zeit, wo es hiess, man dürfe nichts Negatives berichten, sondern in den Medien immer nur Positives erzählen. Das hat das Problembewusstsein auch nicht gefördert. 

In einer Demokratie muss man die Bevölkerung für ein Anliegen gewinnen.

Zudem braucht unsere direkte Demokratie viel Zeit. Wir haben die Biodiversitäts- und Landschaftsinitiativen jetzt eingereicht. Dem ist eine jahrelange Vorbereitung vorausgegangen. In den nächsten Jahren kommen die Initiativen zur Beratung und Abstimmung, dann erst startet die Umsetzung. Trotzdem: Wenn ein solches Instrument mal da ist, ist es auch gut verankert. Dann ist entscheidend, was Regierung und Verwaltung daraus machen. Bei der guten Biodiversitätsstrategie ist der Aktionsplan mit den Massnahmen ungenügend. Bis 2020 hätte die Strategie umgesetzt werden müssen; jetzt zieht BirdLife Bilanz – diese ist weiterhin sehr negativ.

Was, wenn der Aktionsplan gut gewesen wäre? 

Dann hätte man viel erreichen können. Denn im Internationalen Jahr der Biodiversität 2010 und bei den ersten Arbeiten für die Umsetzung der Strategie 2013 war ein enormer Schwung zu verspüren. Über 200 Institutionen und über 600 Fachleute erarbeiteten Massnahmen! Mit der jahrelangen Verzögerung hat der Bund diesen Elan leider gebrochen.

Die Wissenschaft warnt seit Jahrzehnten vor dem Schwund der Biodiversität und dem Klimawandel. Warum hört die Politik nicht auf sie?

Ich denke, die Medien spielen eine wichtige Rolle. Beim Insektensterben haben wir gestaunt, dass sie das Thema so stark aufgenommen haben. Auch der Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES von 2019 hatte ein grosses Medienecho, und jetzt die Geschichte mit den biodiversitätsschädigenden Subventionen. Dies löst auch in der Politik etwas aus. Ohne den Druck durch Medien und Öffentlichkeit ist es viel schwieriger. In einer Demokratie muss man die Bevölkerung für ein Anliegen gewinnen. 

Du warst oft im Bundeshaus und hast für die Natur lobbyiert. Wie muss man sich das vorstellen?

Die berühmten Gespräche in der Wandelhalle sind gar nicht das Wichtigste. Entscheidend ist, dauernd auf dem neusten Stand zu sein, was die laufenden Geschäfte betrifft. Wenn man weiss, welche Traktanden für die Räte und Kommissionen geplant sind – und die sind öffentlich zugänglich – kann man gezielt Fachinformationen zur Verfügung stellen. Und dann gilt es, Koalitionen zu bilden unter Parlamentariern, Organisationen etc., damit ein Anliegen mehrheitsfähig wird.

Womit wirst du in den nächsten Jahren beschäftigen?  

In den letzen Monaten haben mich Corona, die Initiativen und das Referendum zum JSG stark auf Trab gehalten. Dafür ist anderes liegengeblieben, das ich aufarbeiten wollte. Im Auftrag meines Nachfolgers Raffael Ayé werde ich im Hintergrund noch etwas im Archiv tätig sein und für das Jubiläum von BirdLife Schweiz 2022 die Geschichte des Verbandes aufarbeiten. Auch die Strassen im Neeracherried werden mich weiter beschäftigen. Vielleicht erlebe ich ja noch, dass sie verlegt werden.

In wenigen Wochen übergibst du den Stab in neue Hände. Was ist das für ein Gefühl, und was möchtest du dem Verband auf den Weg mitgeben?

Ich bin vor allem dankbar, dass ich für diese packende Aufgabe und diesen einmaligen Verband arbeiten durfte und das mit einem super-motivierten Team und mit dem Vertrauen des Vorstands. Allen, die mitgeholfen haben, auf die gemeinsamen Ziele hinzuarbeiten, danke ich sehr, ganz speziell auch Christa Glauser. 

Es gibt immer Potenzial für Verbesserungen, in der Zusammenarbeit mit Behörden, Politik und mit anderen Organisationen. Aber auch innerhalb der BirdLife-Familie: Konstruktive Kritik führt weiter, Kritik um der Kritik willen blockiert den Dialog.

An Sitzungen haben wir dich stets mit deinem eigenen Getränk erlebt. Jetzt kannst du es ja verraten: Was hat es mit diesem Eistee auf sich? 

Andere brauchen Kaffee, um wach zu bleiben, doch den habe ich nicht gerne. Da trinke ich lieber meinen Eistee. Das habe ich wohl von meiner Mutter: Sie hat uns immer Schwarztee gegeben mit etwas Zitronensaft und Zucker. Davon bin ich nie weggekommen. 

Stefan Bachmann und Dr. Daniela Pauli sind RedaktorInnen von Ornis.

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