Wir haben die Wahl!

Biodiversitätspolitik. Diesen Herbst stehen die nationalen Wahlen an. Was kommt in den nächsten vier Jahren in Sachen Biodiversität auf den National- und Ständerat zu? Und wie muss das Parlament zusammengesetzt sein, damit es den grossen Herausforderungen für Natur und Umwelt gerecht wird? Eines vorweg: So wie in der zu Ende gehenden Legislaturperiode darf es nicht weitergehen.


Raffael Ayé

05.08.2023, Ornis 4/23

Würden Sie die «Ornis»-Ausgabe vom August 2019 aufschlagen, dann würden Sie auf den gleichen Titel stossen wie auf dieser Seite. Wir haben jetzt erneut die Wahl und müssen sie wirklich auch nutzen. Wir, das sind alle, denen die gefährdeten Arten und ihre Lebensräume am Herzen liegen. Alle, die unsere Lebensgrundlagen, die Biodiversität, für uns und kommende Generationen sichern wollen. Damals vor vier Jahren haben wir an dieser Stelle zur Legislaturperiode 2015-2019 von National- und Ständerat geschrieben: «Die Natur hatte in den letzten vier Jahren einen schweren Stand». Das hat sich bisher leider nicht geändert, ja sogar verschärft. 

Vordergründig ist es erstaunlich, dass die Natur und Biodiversität in der Schweiz in den letzten vier Jahren nicht mehr Unterstützung gefunden haben. Denn damals bauschten die Medien die Wahlen zur «Grünen Welle» auf. Schon damals war aber klar, dass die Kräfte im Parlament, die generell bereit sind, sich für die Sicherung der biologischen Vielfalt einzusetzen, weiterhin in der Minderheit blieben. Trotz der «Grünen Welle» lief in Sachen Naturschutz nur dann etwas, wenn auch in der bürgerlichen Mehrheit der beiden Räte verantwortungsvolle, zukunftsgerichtete Parlamentsmitglieder bereit waren, sich für die Biodiversität einzusetzen. Ihnen stand ein grosser Block von Parlamentsmitgliedern gegenüber, die prinzipiell gegen den Naturschutz stimmten. 

Die Umweltallianz, darunter BirdLife Schweiz, analysiert in jeder Legislaturperiode mehrere Dutzend Entscheide zu Natur-, Biodiversitäts- und Umweltthemen und schaut sich das Abstimmungsverhalten der Parlamentsmitglieder und Parteien genau an. Ornis hat ein paar wichtige Beispiele von Entscheiden in der zu Ende gehenden Legislaturperiode im Detail aufgearbeitet.

Drei Beispiele von wichtigen Abstimmungen

Beispiel 1: Für die Biodiversität zentral ist die Revision des Natur- und Heimatschutzgesetzes (NHG) als Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative. Der Nationalrat hat mit deutlichem Mehr von Grünen, SP, GLP und EVP, mit einer Mehrheit der FDP und mit einigen Stimmen der Mitte gegen den grossen Rest der Mitte-Partei und die geschlossene SVP eine interessante NHG-Revision beschlossen (siehe Grafik). Doch in der Junisession 2023 hat der Ständerat mit der grossen Mehrheit von FDP und Mitte und allen Stimmen der SVP schon nur die Diskussion von Massnahmen gegen die Biodiversitätskrise verweigert. Das Geschäft geht nun zurück an den Nationalrat.

Beispiel1 NHG (1)

Abstimmung 20.9.2022/13.6.2023: Revision des Natur- und Heimatschutzgesetzes (NHG) als Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative. Mehr Informationen im PDF des Artikels.

Beispiel 2: Die Ausgestaltung der Landwirtschaftspolitik ist für die Sicherung der Biodiversität absolut entscheidend. Der Bundesrat hatte einen Entwurf für verschiedene wichtige agrarpolitische Neuerungen erarbeitet. Doch im Nationalrat versenkte eine knappe Mehrheit von Mitte, FDP und SVP gegen die geschlossenen Grünen, SP, GLP und EVP die Reformen. Im Ständerat war das negative Ergebnis noch viel deutlicher (siehe Grafik).

Beispiel2 Agrarpolitik

Abstimmung 16.3.2021/14.12.2020: Agrarpolitik ab 2022 mit vorgesehenen Verbesserungen für Umwelt und Natur. Mehr Informationen im PDF des Artikels.

Beispiel 3: Beim Gewässerschutz hätte es in der ersten Session nach den letzten Wahlen beinahe für einen guten Entscheid für die Natur gereicht (siehe Grafik). Doch mit der üblichen Mehrheit der Mitte, FDP und SVP gelang es den Politikerinnen und Politikern um den damaligen Nationalrat Albert Rösti, die wichtigen und bewährten Ersatzmassnahmen für die Natur bei Wasserkraftwerken abzuschaffen (die übrigens die Energieproduktion nicht einschränken). Da nützten auch die geschlossenen Stimmen von Grünen, SP, GLP (eine Stimme gegen die Natur) und EVP nichts.

Beispiel3 Gewässerschutz

Abstimmung 20.9.2022: Ausschluss von Ersatzmassnahmen bei der Wiederkonzessionierung von Wasserkraftwerken. Mehr Informationen im PDF des Artikels.

Der Gewässerschutz war auch in vielen anderen Abstimmungen im Parlament unter starkem Druck, vor allem im Zusammenhang mit der Energieproduktion. Überhaupt war das Thema Energie und Biodiversität während der ganzen Legislaturperiode äusserst aktuell und umstritten. Das falsche Narrativ, dass der Naturschutz die Nutzung erneuerbarer Energien verhindere, setzte sich fest. So folgte ein Abbau-Vorschlag dem anderen, vom sogenannten «Mantelerlass» über den «Solar-» und später «Windexpress» bis zur «Beschleunigungsvorlage». Die Mehrheiten wechselten – bei einem Entscheid war auch die SVP auf Seiten des Naturschutzes. Die meisten Vorlagen sind noch in Diskussion, weshalb wir im Energiebereich kein Beispiel einer zentralen Abstimmung für den Naturschutz ausgewählt haben. Hinzu kommen all die Fragen um die Raumplanung mit der Revision des Raumplanungsgesetzes 2 und der Landschaftsinitiative etc.

Während die Mitte deutlich häufiger gegen die Umwelt stimmte als vormals die CVP und die BDP, legte die FDP etwas zu.

Die vollständige Bilanz des Umweltratings mit der Analyse aller wichtigen Umwelt-Abstimmungen im Parlament während der Legislaturperiode 2019-2023 wird Ende August unter umweltrating.ch veröffentlicht. In der Hälfte der Legislatur-periode gab es bereits eine Zwischenbilanz, und es wird interessant sein, zu sehen, ob es über die ganze Laufzeit Veränderungen gab. Die Ergebnisse von 2021: Die ersten Plätze als besonders umwelt- und naturfreundlich belegten die Nationalrätinnen und Nationalräte der Grünen, SP, GLP und EVP. Diese Parteien hatten ihren Anteil an umweltfreundlichen Abstimmungen weiter ausgebaut. Eine Trendwende zeigte sich derweil bei den Nationalratsmitgliedern von Mitte und FDP: Während die Mitte deutlich häufiger gegen die Umwelt stimmte als vormals die CVP und BDP, legte die FDP etwas zu. Die FDP und Mitte unterschieden sich aber in ihrem thematischen Profil: Während die Mitte in Klimafragen ökologischer tickte als die FDP, stimmten Ratsmitglieder der FDP bei Naturschutzthemen deutlich häufiger für die Umwelt als die Mitte. In diesen beiden Parteien sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Personen allerdings sehr gross. Die letzten Plätze wurden von der Lega, der EDU und der SVP belegt.

Im Ständerat, wo die umweltfreundlichen Parteien 2019 kaum zugelegt hatten, fiel die Zwischenbilanz noch enttäuschender aus. Zum einen haben die Grünen und die SP in der Kleinen Kammer nur wenige Sitze. Zum anderen stimmten die Ständerätinnen und Ständeräte der Mitte und der FDP in sehr vielen Fällen wie die SVP gegen den Schutz der Natur und gegen die Sicherung der Biodiversität.

NHG Fluri Key

FDP-Nationalrat Kurt Fluri kandidiert leider diesen Herbst nicht mehr. In den letzten 20 Jahren war er in der grossen Kammer einer der wichtigsten Kämpfer für die Natur. © zvg

Nicht nur die Partei ist entscheidend

Das Umweltrating zeigt deutlich: Für ökologischen Fortschritt braucht es eine Stärkung der positiven Kräfte mit Grünen, SP, GLP und EVP und eine bessere Unterstützung von Naturschutzfragen seitens FDP und Mitte. Entscheidend ist deshalb gerade in diesen beiden Parteien, wer von den Kandidierenden den Sprung in den National- und Ständerat schafft. Als Hilfe für den Wahlentscheid gibt daher das Umweltrating ab Ende August Auskunft über das Stimmverhalten aller Parlamentsmitglieder. Alle Kandidierenden haben zudem die Möglichkeit, eigene Wahlversprechen für die nächsten vier Jahre abzugeben. 

Es kommen sehr viele wichtige Entscheide auf das neue Parlament zu. Unabhängig vom Ausgang der Auseinandersetzungen um die NHG-Revision und die Biodiversitätsinitiative wird es grosse zusätzliche Anstrengungen brauchen, um die Biodiversitätskrise zu bewältigen. Der Druck auf Natur und Landschaft von der Energielobby wird nicht abnehmen. Dringend sind auch Verbesserungen in der Landwirtschaft. Umso wichtiger ist es, wen Sie in den National- und Ständerat wählen: welche Parteien, aber auch welche einzelnen Personen. Informieren Sie sich unter umweltrating.ch zu den Parteien und den Kandidierenden, die bereits im Parlament sassen. Konsultieren Sie die Wahlversprechen der neuen und erneut Kandidierenden zu Umweltfragen. Und das Wichtigste: Gehen Sie bitte auf jeden Fall wählen.

Dr. Raffael Ayé ist der Geschäftsführer von BirdLife Schweiz.

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