Vögel im Gegenwind

BirdLife schlägt Alarm. Die neuste Ausgabe des wissenschaftlichen Berichts «State of the World’s Birds» von BirdLife International zeigt: Die Vögel stehen global unter Druck wie nie zuvor. Während die Rote Liste immer länger wird, gehen auch die Bestände vieler häufiger Arten zurück. Den seltensten der seltenen Spezies widmet BirdLife ein spezielles Schutzprogramm namens «Preventing Extinctions».


Die umfassendsten Datenreihen stammen aus Nordamerika und Europa. Hier werden die Vogelbestände schon seit rund 50 Jahren systematisch überwacht, teils auch länger. Die Erkenntnisse aus den Monitorings erschüttern: Im Jahr 1970 lebten in Nordamerika noch 2,9 Milliarden Vögel mehr als heute. Dies entspricht einem Rückgang um fast 30 %. In der EU ist ein Rückgang von fast 20 % seit 1980 zu beklagen, was einem Minus von rund 600 Millionen Vögeln entspricht. 

Zahlen wie diese hat BirdLife International in der neusten Ausgabe des wissenschaftlichen Berichts «State of the World’s Birds» zusammengetragen. Anhand der verfügbaren Forschungsergebnisse aus aller Welt zeigt BirdLife auf, wie es um die Vogelwelt auf unserem Planeten steht. Weil Vögel gute Gradmesser für den generellen Zustand der Biodiversität sind, gibt der Bericht auch wichtige Hinweise über die Vogelwelt hinaus. Überdies ordnet er anhand von wissenschaftlichen Fakten die Gründe für die Biodiversitätskrise ein. 

Insgesamt stehen heute 12,8 % der Vogelarten auf der globalen Roten Liste, sind also in ihrer Existenz bedroht. Dies entspricht 1409 von rund 11 000 bekannten Spezies. Weitere 9 % stehen auf der Vorwarnliste (Kategorie «potenziell gefährdet»). 187 Arten sind bereits ausgestorben. 

Nur 6 % der Arten werden häufiger

Alarmierend ist aber nicht nur die Länge der globalen Roten Liste. Auch viele bisher ungefährdete Arten zeigen abnehmende Bestände: Fast die Hälfte aller Vogelarten geht inzwischen zurück, während nur 6 % der Arten steigende Tendenzen haben. Einige wenige Zahlen aus dem Bericht sollen das veranschaulichen:

■ In Europa haben die häufigen Agrarvögel seit 1980 um 57 % abgenommen. Die häufigen Wald­vögel gingen nur um 3 % zurück.

■ In Kenja werden heute 70 % weniger Greifvögel gezählt als noch 1970.

■ In Indien stehen die Vögel besonders unter Druck: Innert nur 18 Jahren seit der Jahrtausendwende gingen die Vogelarten, die speziell auf Wald angewiesen sind, um 62 % zurück. Grasland-Arten verloren 59 % und Feuchtgebiets-Arten 47 % ihrer Bestände.

■ Besonders lange Zahlenreihen aus Japan zeigen, dass dort die Waldvögel seit 1850 um 94 % zurückgingen.

■ Im Meer rund um Australien kommen heute 43 % weniger Seevögel vor als noch vor 20 Jahren.

Die Umwandlung von Naturgebieten in Landwirtschaftsland und die Intensivierung der Landwirtschaft sind laut wissenschaftlichen Auswertungen die grössten Bedrohungen für die Vögel: 73 % der bedrohten Arten sind davon betroffen. Abholzung und nicht nachhaltige Waldbewirtschaftung sind weltweit ebenfalls ein grosses Problem: Der Verlust von über 7 Millionen Hektaren Wald pro Jahr (1,7-mal die Fläche der Schweiz) hat Auswirkungen auf die Hälfte der bedrohten Vogelarten. Vom Menschen eingeschleppte invasive Arten stellen eine Gefahr für 40 % der Vogelarten der Roten Liste dar. Vor allem auf Inseln haben sie katastrophale Auswirkungen. Hinzu kommen weitere Bedrohungen.

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BirdLife International hat analysiert, aus welchen Gründen die 1409 Arten auf der globalen Roten Liste stehen. Bei den meisten Arten sind es mehrere Bedrohungen. In der Grafik ist jeweils die Anzahl Arten angegeben, die von einer Bedrohung betroffen sind.

Botschaften ernst nehmen

«Die Vögel geben uns Aufschluss über den Zustand unserer natürlichen Umwelt», sagt Patricia Zurita, CEO von BirdLife International. «Wir Menschen aber ignorieren ihre Botschaften.» Sie ergänzt: «Während die Covid-Pandemie und weitere Krisen die Aufmerksamkeit von der Umweltagenda abgelenkt haben, muss sich die Weltgesellschaft nun wieder auf die Krise der biologischen Vielfalt konzentrieren.»

Auch für Raffael Ayé, Geschäftsführer von BirdLife Schweiz, ist klar, dass der globalen Biodiversitätskrise noch viel zu wenig Beachtung geschenkt wird – gerade auch bei uns in der Schweiz. Tatsächlich zeigt ein Vergleich der globalen Roten Liste und der Roten Liste der Brutvögel der Schweiz, dass hierzulande besonders grosse Anstrengungen nötig sind, um die Vogelwelt und die Biodiversität insgesamt zu schützen und zu fördern: Während global wie erwähnt 12,8 % der Vögel gefährdet sind, stehen in der Schweiz 40 % der Brutvögel auf der Roten Liste. Auch die Vorwarnliste ist länger (20 % versus 9 %). Die Schweizer Liste wurde nach exakt denselben Kriterien der IUCN wie die globale Liste erstellt. Besonders stark gefährdet sind hierzulande die Arten des Agrarlandes und der Feuchtgebiete; im Wald geht es den Vögeln viel besser, allerdings mit Ausnahmen.

Vier Arten, die auf der globalen Vorwarnliste stehen, sind übrigens auch Brutvögel in der Schweiz: Steinhuhn, Moorente, Grosser Brachvogel (allerdings in der Schweiz faktisch ausgestorben) und Bartgeier. Der Rotmilan mit seiner geringen globalen Verbreitung und der kleinen Weltpopulation (ca. 60 000 bis 70 000 Vögel) war bis 2021 auf der Roten Liste, konnte nun aber daraus gestrichen werden. 

Hinzu kommen weitere 14 Vogelarten, die auf der Europäischen Roten Liste oder Vorwarnliste stehen, darunter Kiebitz, Alpenschneehuhn, Wiesenpieper und Turteltaube. Für all diese Arten hat die Schweiz aufgrund der weltweiten bzw. europäischen Gefährdung eine besondere Verantwortung.

Es gibt auch Hoffnung

Die Zahlen aus dem Bericht «State of the World’s Birds» sind erschreckend – doch können uns gerade die Vögel auch Grund zur Hoffnung geben. Denn sie zeigen, dass Arten mit wirksamen Massnahmen gerettet werden können und sich die Natur zu erholen vermag. Über 450 Important Bird and Biodiversity Areas (IBAs) wurden dank den Bemühungen der BirdLife-Partner bisher als Schutzgebiete ausgewiesen, wie BirdLife International schreibt. Die IBAs sind für die Vögel besonders wichtig. Und seit 2013 haben 726 weltweit bedrohte Vogelarten direkt von den Massnahmen der BirdLife-Partnerschaft profitiert. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf den Arten, die ohne Hilfe unweigerlich aussterben würden: Ihnen ist das BirdLife-Programm «Preventing Extinctions» gewidmet (siehe Begleittexte zu den Bildern).  

BirdLife Schweiz erzielt mit seinen Projekten für Steinkauz, Kiebitz, Uferschwalbe und andere Arten ebenfalls einen stark positiven Einfluss auf deren Bestände.  Nun ist der Aufbau der Ökologischen Infrastruktur zentral. Raffael Ayé bilanziert: «Wenn Politik, Behörden, Wirtschaft und Gesellschaft endlich ernsthaft in den Schutz der Biodiversität in der Schweiz investieren, dann ist eine starke Verbesserung der Situation möglich.»

Stefan Bachmann ist Biologe und Redaktor von Ornis.

Die Bilder zu diesem Artikel zeigen extrem gefährdete Vogelarten, denen BirdLife im Rahmen des Programms «Preventing Extinctions» unter die Flügel greift. Details in den Begleittexten.

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Fatuhivamonarch. © Benjamin Ignace

Fatuhivamonarch

Der Fatuhivamonarch (Pomarea whitneyi) besiedelt nur eine einzige 15 Kilometer lange Insel mitten im Pazifik, die zu den Marquesas-Inseln gehört. Bis in die Neunzigerjahre reichte der Lebensraum für die Art, die von den Einheimischen Oma’oke’eke’e genannt wird, vollkommen aus. Dann aber vermehrten sich vom Menschen eingeschleppte Ratten und verwilderte Hauskatzen explosionsartig, und die Beutegreifer fielen überall in den Wäldern über die Nester und Jungvögel her. Schliesslich überlebten gerade mal 30 Vögel, vier Brutpaare wurden noch gefunden. Nur dank eines Projekts des BirdLife-Partners Société d’Orni­thologie de Polynésie (SOP Manu) ab 2016 konnte die Art bisher vor dem Aussterben bewahrt werden. Ziel ist es, in einem 600 Hektaren grossen Testgebiet die Ratten und die verwilderten Hauskatzen unter Kontrolle zu halten. Ausserdem wird jedes gefundene Nest rigoros geschützt. So gelang es, die Überlebensrate der Jungvögel erheblich zu verbessern. Eine deutliche Erholung der Brutpopulation lässt allerdings noch auf sich warten, da zu allem Übel die Vogelmalaria ausbrach. Zudem scheinen viele neugierige Jungvögel aus dem geschützten Testgebiet fortzuwandern und dann andernorts den Katzen zum Opfer zu fallen. Noch besteht jedoch Hoffnung für die Art: Beim verwandten Tahiti-Monarchen konnte der Bestand dank einem ähnlichen Projekt von 12 auf über 100 Vögel vergrössert werden.

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Madagaskar-Moorente. © Dubi Shapiro/Alamy

Madagaskar-Moorente

Diese höchst seltene Entenart ist buchstäblich von den Toten auferstanden. Zuletzt wurde sie 1960 gesehen, dann galt sie für lange Zeit als verschollen. Einer der Gründe liegt bei vom Menschen ausgesetzten Fischen, welche die Küken fressen. Weitere Probleme wie die Zerstörung der Lebensräume an den Seeufern, Jagd und invasive Ratten kommen hinzu. Im Jahr 2006 entdeckten allerdings Ornithologen wieder einen Trupp aus neun Adultvögeln und vier Küken. 2012 zählte man 21 Vögel – eine extrem kleine Zahl für eine Vogelart, die sonst nirgendwo auf der Welt vorkommt. Ein Naturschutzkonsortium, dem der BirdLife-Partner Asity Madagascar, der Wildfowl and Wetlands Trust, der Durrell Wildlife Conservation Trust und die Regierung von Madagaskar angehören, begann daher, die Madagaskar-Moorente zu züchten. Aus einem einzelnen Gelege gingen innert sechs Jahren insgesamt 90 Enten hervor, die 2018 an einem geeigneten See ausgesetzt werden konnten. Schon im ersten Jahr verpaarten sich je zwei Vögel. Weitere brütende Vögel kamen später hinzu und vergrösserten die neue Population rasch – eine solide Erfolgsbilanz. 

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Bernsteinseeschwalbe. © John Holmes/Alamy

Bernsteinseeschwalbe

Auch sie gehört zweifellos zu den seltensten und gefährdetsten Vögeln der Welt: die Bernsteinseeschwalbe (Thalasseus bernsteini), auf Englisch Chinese Crested Tern. In den Neunzigerjahren galt die Art als ausgestorben; erst im Jahr 2000 entdeckte ein Forscher wieder einzelne Vögel auf den Matsu-Inseln vor Taiwan. 2004 wurde eine weitere kleine Brutkolonie gefunden, die jedoch wegen illegalem Eiersammeln keine Bruterfolge erzielte. Die Welt­population wurde auf weniger als 50 Vögel geschätzt. Ab 2011 starteten mehrere Institutionen ein Schutzprojekt, darunter die Hong Kong Bird Watching Society (BirdLife Hongkong) und die Audobon Society (BirdLife USA). Dank Lautsprechern und Seeschwalben-Attrappen konnten die letzten lebenden Vögel auf eine sicherere Insel mit kleiner Überwachungsstation gelockt werden, wo sie zusammen mit anderen Seeschwalben auch tatsächlich zu brüten begannen. Obwohl es in einem der Folgejahre Probleme mit einer invasiven Schlangenart gab, die viele Eier auffrass, erholt sich die Bernsteinseeschwalbe langsam. Heute geht man wieder von etwa 100 Vögeln aus, die in drei Kolonien brüten.

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Rubinkehltangare. © Gustavo Magnago

Rubinkehltangare

Nemosia rourei wurde 1870 entdeckt und beschrieben: Ein Naturforscher namens Jean de Roure erlegte einen der hübschen Vögel und sandte das Typusexemplar ans Berliner Museum für Naturkunde. Danach blieb die Rubinkehltangare von seltenen meist zweifelhaften Sichtungen abgesehen – während über 100 Jahren verschollen. Die Wiederentdeckung gelang 1998, als Forscher im atlantischen Regenwald Brasiliens zehn Exemplare fotografieren konnten. Heute sind weniger als 20 Individuen bekannt; BirdLife schätzt den Weltbestand auf 50 bis 250 Vögel. Der Grund liegt in der Habitatzerstörung: Die beiden kleinen Waldstücke, in denen noch Rubinkehltangare leben, sind heute von riesigen Eukalyptus- und Kaffeeplantagen umgeben. Dennoch hat BirdLife die Hoffnung noch nicht verloren. 2017 half der BirdLife-Partner SAVE Brasil der Grupo Aguia Branca, einer Transportfirma, zum Schutz der Vogelart ein 1688 Hektaren grosses privates Naturschutzreservat aufzubauen. Es wird sich zeigen, ob das Schutzgebiet gross genug ist und ob die Vögel darin ausreichend vor den Gefahren geschützt werden können. 2021 starteten zudem mehrere Akteure – darunter SAVE Brasil – den Aufbau eines Aktionsplans, um die Rubinkehltangare zu retten.

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