Strukturen für das Leben

Kleinstrukturen fördern. Sie dienen vielen Tieren als Kinderstube, Versteck oder Trittstein auf Wanderungen: Kleinstrukturen wie Ast- und Steinhaufen, Wurzelstöcke, Kleinstgewässer oder Buschgruppen. Doch trotz ihrer Bedeutung für die Natur verschwinden solche Strukturen in der Landschaft noch immer, statt dass sie gefördert werden. Mit der Agrarpolitik 22+ muss sich das ändern.


«Ordnung ist das halbe Leben.» Auch wenn die Herkunft dieser verbreiteten Redensart nicht geklärt ist, wäre ein Schweizer Ursprung kaum überraschend, derart ernst nehmen viele Schweizerinnen und Schweizer das Thema. Es gibt sie noch, die Leute, die Ast- und Steinhaufen, Wurzelstöcke, Kleinstgewässer oder Buschgruppen als «Unordnung» abtun. Mittlerweile haben viele jedoch erkannt, dass diese Lebensräume Struktur in die Landschaft und den Garten bringen. 

Kleinstrukturen sind Elemente, die für die Natur unabdingbar sind, obwohl sie nur wenig Raum beanspruchen. Sie bieten Abwechslung, viele kleine und grosse Nischen als Verstecke oder Überwinterungsplätze, Brut- oder Laichplätze und Nahrung. Für den Menschen machen
Kleinstrukturen oft den Unterschied aus, ob eine Landschaft als ästhetisch ansprechend oder als eher langweilig empfunden wird. Gebiete mit naturnahen Elementen wie Blumenwiesen, Asthaufen und Wildsträuchern enthalten denn auch viel mehr Leben als eintönige Kulturen oder Rasenflächen. Kein Wunder also, dass die BirdLife-Familie von 2001 bis 2005 ihre Hauptkampagne den Kleinstrukturen gewidmet hatte. Dies führte dazu, dass Kleinstrukturen heute selbstverständlich Bestandteil jedes Naturschutzprojektes sind. Das Thema bleibt jedoch weiterhin aktuell, insbesondere in der laufenden Debatte zur Agrarpolitik 22+. 

Kleinstrukturen bringen Leben

Kleinstrukturen genau abzugrenzen ist nicht immer einfach. Dazu gezählt werden Ast-, Laub- und Streuhaufen, Baumstümpfe und Wurzelteller, Steinhaufen, Holzbeigen, Buschgruppen, Kleinstgewässer, temporäre Feuchtstellen, Trocken- steinmauern, Hochstaudenfluren, Säume, offene Bodenstellen, Holzpfosten, extensiv genutzte Böschungen, Brennnesselstauden etc. 

Viele dieser Elemente stellen bereits für sich allein Lebensräume für meist kleinere Arten wie Zauneidechse, Gelbbauchunke, Tagpfauenauge oder Sandbienen dar. Für grös­sere Arten sind Kleinstrukturen ein wichtiger Teil von ausgedehnteren Lebensräumen. Aus Sicht von Arten mit grossen Streifgebieten werden teilweise auch Strukturen wie eine ganze Hecke oder ein extensiv genutzter Uferbereich als Kleinstruktur bezeichnet. 

Die Bedeutung von Kleinstrukturen für die Artenvielfalt einmal genauer zu betrachten ist lohnenswert. So konnte in einer kürzlich abgeschlossenen Bachelorarbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Asthaufen eine erstaunliche Vielfalt von Tieren festgestellt werden: Spinnen, Käfer oder auch Hautflügler wurden in sämtlichen Haufen gefunden, Asseln, Weberknechte, Steinläufer, Ohrwürmer, Wanzen und Insektenlarven in über 70 Prozent der untersuchten Strukturen. 

Die Forschenden fanden überdies 20 Schneckenarten. Darunter befanden sich auch seltene und gefährdete Arten wie die Gemeine und die Faltenrandige Schliessmundschnecke, die auf der Roten Liste als landesweit stark gefährdet bzw. potenziell gefährdet aufgeführt sind. 40 Prozent der Asthaufen beherbergten mindestens eine der drei Amphibienarten Grasfrosch, Erdkröte und Bergmolch. Die Artenzahl der Schnecken und die Individuenzahl der Amphibien stiegen mit zunehmendem Alter der Asthaufen deutlich an. Amphibien und Kleinsäugern reichen bereits kleinere Asthaufen als Unterschlupf, wogegen Wiesel eine Mindestgrösse von einem Meter Höhe und zwei auf drei Metern Breite benötigen. 

Sollen auch anspruchsvollere oder grössere Arten einen Lebensraum finden, müssen mehrere unterschiedliche Kleinstrukturen zusammen mit extensiv genutzten und blütenreichen Flächen in einem kleinflächigen Mosaik angeordnet sein. Die Kombination von Buschgruppen, Asthaufen und gestaffelt gemähten Blumenwiesen oder einer Buntbrache fördert Arten wie Neuntöter oder Goldammer besonders effektiv. 

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«Verwilderte» Lesesteinhaufen werden von vielen Tieren sehr geschätzt. © Christa Glauser/BirdLife Schweiz (3)
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Grosse Asthaufen sind sehr wertvoll für die Natur. Da sie langsam zersetzt werden, kann man sie ab und zu erneuern.
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Sehr viele Tiere sind auf Wasser angewiesen. Kleine Tümpel oder feuchte Senken sollten belassen werden.

Die Vielfalt bringt’s

Besonders gut wurde die Bedeutung der Kleinstrukturen für den Steinkauz untersucht. Studien der Vogelwarte zeigen, dass die kleinen Eulen in einem Mosaik aus extensiven Wiesen und Flächen mit geringer Vegetationshöhe besonders erfolgreich Junge grossziehen. Solche abwechslungsreichen Landschaften sind auch durch eine hohe Dichte und Vielfalt an Kleinstrukturen sowie anderen naturnahen Elementen gekennzeichnet. Hier kommen einerseits viele Beutetiere vor, andererseits sind diese für den Steinkauz gut erreichbar. Damit der Lebensraum für den Steinkauz geeignet ist, muss aber zwingend eine genügend grosse Zahl von geeigneten Bäumen mit Bruthöhlen und Schlafplätzen sowie Ansitzwarten wie Zaunpfosten oder Asthaufen auf kleinem Raum vorhanden sein. 

Kleinstrukturen bieten der kleinen Eule also mindestens dreierlei: mehr Nahrung, weil sich in ihnen Beutetiere reproduzieren und verstecken, günstige Brutstätten und ein vielfältiges Angebot an sicheren Ruheplätzen. 

Eine Vielfalt an Strukturen und Lebensräumen auf kleinem Raum ist auch für Wildbienen essenziell. Je nach Entwicklungsstadium und Jahreszeit sind diese auf unterschiedliche Strukturen angewiesen. Während der Flugzeit benötigen sie Nektar, den sie auf extensiven Wiesen und als Bestäuber in Obstgärten sammeln. Sie legen ihre Eier jedoch in Stängel abgestorbener Pflanzen, in Käfergänge in totem Holz oder in offene Bodenstellen.

Entscheidend ist auch bei den Kleinstrukturen die ökologische Qualität. So sind, wie die Studie der ZHAW gezeigt hat, ältere Ast- und Steinhaufen wertvoller als neu angelegte – ein Effekt, der auch von Buntbrachen und Einzelbäumen bekannt ist. Ältere Bäume haben oft Risse, abgestorbene Äste und Baumhöhlen. 

Schliesslich reicht aber auch der schönste Lebensraum nicht aus, wenn er isoliert ist. Jungtiere müssen sich ein neues Territorium suchen, und Populationen müssen für ein längerfristiges Überleben miteinander im Austausch stehen. Klein­strukturen helfen, Lebensräume zu vernetzen, und werden von umherstreifenden Tieren als Trittsteine genutzt, in denen sie Schutz und Nahrung finden. 

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Kleinstrukturen können neu angelegt werden, um kleine Lebensräume und Trittsteine zu schaffen. © Christa Glauser/BirdLife Schweiz (3)
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Solche verwilderte Ecken haben einen grossen Wert für die Biodiversität.
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Steinmauern werden mit zunehmendem Alter immer wertvoller für die Natur. Dies gilt auch für viele andere Kleinstrukturen.

Systematische Beseitigung

Im Zuge der landwirtschaftlichen Intensivierung wurden und werden Parzellen vergrössert und Kleinstrukturen systematisch bei Meliorationen beseitigt. Damit wandelte sich die Agrarlandschaft seit Mitte des letzten Jahrhunderts von einer kleinräumigen und strukturreichen zu einer grossräumig einförmigen Landschaft. 

Noch heute werden auch in höheren Lagen im Jura und in den Alpen mit Meliorationen ganze Landschaften ausgeräumt und immer intensiver genutzt. Das drastischste Beispiel dafür ist der Einsatz von Steinfräsen, mit denen innert kurzer Zeit alle Strukturen zerstört werden (siehe Ornis 4/19). 

Die Agrarpolitik setzt bis heute trotz Zahlungen in Milliardenhöhe an die Landwirte keine ausreichenden Anreize für den Erhalt der Biodiversität. Die Subventionen für die Landwirtschaft werden wenig gezielt und teilweise widersprüchlich ausgerichtet (siehe auch Ornis 3/17).

Agrarpolitik braucht Anpassungen

Die besorgniserregende Entwicklung vieler Arten des Landwirtschaftslandes führte zwar dazu, dass Biodiversitätsförderflächen BFF (früher ökologische Ausgleichsflächen genannt) seit den 1990er-Jahren mit rund 400 Millionen Franken finanziell unterstützt werden. Kleinstrukturen können dazu beitragen, dass Hecken, extensiv genutzte Weiden, Hochstamm-Obstgärten oder Rebflächen mit natürlicher Artenvielfalt die Qualitätsstufe II erreichen und der Landwirt somit höhere Beiträge erhält. In den meisten anderen BFF-Typen ist das aber nicht der Fall. Nach den heutigen Regelungen der Agrarpolitik werden Flächen mit einem Anteil von mehr als einem Prozent an «unproduktiven» Kleinstrukturen von der landwirtschaftlichen Nutzfläche abgezogen. Falls in der entsprechenden Region kein Landschaftsqualitätsprojekt Beiträge für Kleinstrukturen vorsieht, gehen dem Landwirt so effektiv Beiträge verloren. Der Bauer wird also bestraft, obwohl er etwas Wichtiges für die Biodiversität tut. Das muss sich mit der kommenden Agrarpolitik AP22+ unbedingt ändern. 

Dass die Kleinstrukturen einen wichtigen Beitrag zu einer höheren Lebensraumqualität leisten, zeigt auch die gerade abgeschlossene Evaluation der Biodiversitätsbeiträge durch das Bundesamt für Landwirtschaft: Gemäss dieser machen Kleinstrukturen als Einflussvariable von Biodiversitätsförderflächen einen wichtigen Bestandteil der ökologischen Qualität aus. Die Experten halten fest, «dass Verbindungen zwischen Lebensräumen (auch durch Trittsteine wie Kleinstrukturen) einen wertvollen Beitrag zur Biodiversität in der Kulturlandschaft leisten.» Und weiter: «Einen bemerkenswerten Anteil zur Erklärung der ökologischen Qualität von Wiesen und artenreichen Grün- und Streuflächen im Sömmerungsgebiet lässt sich den Kleinstrukturen zuordnen.» 

KL Gadmen 1900 Nord
KL Gadmen 2003 Nord
Auch in Gadmen BE mussten in den letzten Jahrzehnten die meisten Kleinstrukturen weichen (links: um 1950, rechts: 2003). © Nationalbibliothek, Andreas Meyer

Spürbarer Wandel

Die Wertschätzung für Kleinstrukturen ist in letzter Zeit wieder etwas gestiegen – vor allem auch dank der Kampagne von BirdLife Schweiz und dem Engagement der Sektionen in den Gemeinden. Es gibt auch erfolgsversprechende Beispiele von engagierten Bauern.

Die Erkenntnisse aus dem Obstgarten Farnsberg zeigen denn auch, dass Landwirte bereit sind, Kleinstrukturen zu fördern (siehe Ornis 6/19). Im Rahmen des BirdLife-Projekts wurden die Bauern fachlich beraten und über den Wert von Kleinstrukturen informiert. Zudem wurden für deren Erstellung und Pflege zusätzliche Beiträge angeboten. Die Kombination von Beratung und finanziellen Anreizen führte am Farnsberg dazu, dass viele Landwirtinnen und Landwirte neue Strukturen anlegten und diese pflegen. Vorteilhaft ist aus Sicht der Bauern, dass vergleichsweise wenig Land für die Strukturen benötigt wird. Bereits sichtbare, positive Auswirkungen – zunehmende Beobachtungen des Hermelins oder ein wachsender Bestand des Neuntöters – motivieren die Landwirte neben den finanziellen Anreizen, sich auch längerfristig für mehr Strukturen zu engagieren. 

Fakten nicht mehr ignorieren

Befremdlich bleibt, wie wenig sich die Erkenntnisse über die Bedeutung von Kleinstrukturen zur Förderung der Biodiversität bisher in der Ausrichtung der Agrarpolitik niederschlugen. Die Agrarpolitik 22+ muss nun im Bereich der Biodiversität endlich mehr Fakten berücksichtigen und entsprechende Massnahmen liefern. Viel zu lange wurden die massiven Defizite in der Erhaltung und Förderung der Biodiversität ignoriert. 

Kleinstrukturen allein können die Biodiversitätskrise im Landwirtschaftsland noch nicht beheben. Dazu braucht es weitere essenzielle Veränderungen. Dennoch sind Verbesserungen im Bereich der Förderung von Kleinstrukturen sinnvoll. Sie können ein Schlüssel zu verbesserter Qualität sein und sind vergleichsweise leicht zu realisieren. 

Jetzt ist es am Bundesamt für Landwirtschaft, diesen Schritt in der neuen Agrarpolitik zu machen, und auch sonst für eine Verbesserung der Massnahmen zugunsten der Biodiversität zu sorgen.

Martin Schuck ist Projektleiter Artenförderung bei BirdLife Schweiz. Matthias Tschumi arbeitet an der Schweizerischen Vogelwarte Sempach in der Abteilung «Ökologische Forschung».

S. Tinz: Haufenweise Lebensräume. Pala-Verlag, 2019, 188 Seiten, Fr. 28.90

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