Ein Meilenstein für die Biodiversität

Das neue globale Rahmenabkommen für die Biodiversität. Im Dezember gelang nach zähem Ringen der Abschluss des «Kunming-Montreal-Global-Biodiversity-Frameworks» (GBF). BirdLife Schweiz war als Teil der Schweizer Delegation an den Verhandlungen in Montreal dabei. Wichtig ist nun, dass das neue Rahmenabkommen umgesetzt wird – und nicht nochmals ein Jahrzehnt für die Biodiversität verloren geht.


Raffael Ayé

05.04.2023, Ornis 2/23

Der Hammer geht am 19. Dezember 2022 in den frühen Morgenstunden nieder. Damit ist der Kunming-Montreal-Zielrahmen für die Biodiversität (GBF) Realität. Ein grosser Teil der Delegierten hat seit 21.30 Uhr, manche sogar seit 19.30 Uhr, im Saal oder sonst irgendwo im Konferenzzentrum ausgeharrt. Müdigkeit und Erleichterung sind in allen Gesichtern zu lesen. Jubel bricht aus.

Aichi-Ziele von 2010 verfehlt

Bereits 2010 hatte die Biodiversitätskonvention ein strategisches Rahmenwerk verabschiedet, das wichtige Ursachen des Biodiversitätsverlusts bezeichnete und Wege aufzeigte, diese Ursachen zu bekämpfen. Die enthaltenen 20 «Aichi-Ziele» waren bis zur Verabschiedung des GBF die wichtigsten globalen Zielvereinbarungen für die Erhaltung der Biodiversität. Trotz politischer Kompromisse waren sie eine ziemlich gute Vorgabe für Massnahmen und Wirkung bis 2020. 

Allerdings wurden die Aichi-Ziele verfehlt, oft deutlich. Dies zeigten sowohl der 2019 veröffentlichte globale Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES als auch der globale Biodiversitätsausblick (GBO-5) der Konvention. 

Vor diesem Hintergrund diskutierten die Vertragsparteien ab 2018 intensiv über einen neuen globalen Zielrahmen für die Zeit nach 2020. Der erste, eher zeremonielle Teil der Verhandlungen fand als Hybrid-Veranstaltung vom 11. bis am 15. Oktober 2021 in Kunming, China, statt. Die Delegierten kündigten dabei an,  gemeinsam ein wirksames globales Rahmenabkommen zur biologischen Vielfalt zu beschliessen und umzusetzen. Der zweite Teil wurde vom 5. bis 17. Dezember 2022 im kanadischen Montreal abgehalten. BirdLife Schweiz war Teil der Schweizer Verhandlungsdelegation. 

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Die Erleichterung bei den Verhandlungspartnern ist riesig.

196 Stimmen für die Vielfalt

Der Kunming-Montreal-Zielrahmen (oder auf englisch Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework, kurz GBF) ist ein äusserst wichtiger Schritt für den Erhalt der Biodiversität. UNO-Generalsekretär António Guterres forderte die Delegierten an der Eröffnung mit markigen Worten auf, den Schutz der Bio­diversität endlich ernst zu nehmen. Mit dem entsprechenden Beschluss einigten sich 196 Staaten und anerkennen den grossen Handlungsbedarf zum stärkeren Schutz der biologischen Vielfalt. Hätte auch nur ein Vertragspartner dagegen gestimmt, wäre das Abkommen nicht zustande gekommen. 

Tatsächlich war lange nicht an einen guten Abschluss zu denken, die Verhandlungen zogen sich zäh über Tage hin und machten kaum Fortschritte. Während die Schweiz in einer Gruppe mit anderen Ländern für ambitionierte Ziele kämpfte, feilschten andere wie Brasilien und Argentinien um jedes Komma und drohten mit dem Veto. Zeitweise schien es fast, als würde dem kanadischen Chefverhandler Basile van Havre der Geduldsfaden reissen.  

Ziele mit Hand und Fuss

Es ist ein komplexer Zielrahmen, den die 196 Vertragsparteien in Montreal verabschiedet haben. Eine Mission, vier Oberziele, 23 Ziele, ein erst teilweise definierter Monitoring-Rahmen und Begleittext konkretisieren das gemeinsame Ziel, die Biodiversität weltweit und in jedem einzelnen Vertragsstaat besser zu schützen. 

Das Oberziel A adressiert direkt die Biodiversität auf allen Ebenen: Ökosysteme, Arten und genetische Vielfalt sollen erhalten und gefördert werden. Im Oberziel B geht es um die nachhaltige Nutzung und die Wiederherstellung von Ökosystemleistungen, im Oberziel C um die gerechte Teilung der Vorteile, die sich aus der Nutzung der genetischen Ressourcen und ihrer Gensequenzen ergeben. Mit Oberziel D schliesslich sollen ausreichende Finanzmittel und weitere Ressourcen zur Umsetzung bereitgestellt werden. 

Am meisten Sichtbarkeit hat in den Medien bisher das Ziel 3 erhalten. Dieses fordert, 30 % der Land- und der Wasserflächen der Erde zugunsten der Biodiversität zu schützen oder mit anderen wirksamen Massnahmen die Biodiversität dieser Flächen zu erhalten. 

In der Tat ist dieses Ziel von grosser Bedeutung, denn es gibt unzählige Ökosysteme und Arten, die sich fast nur noch in Schutzgebieten erhalten lassen. Der GBF enthält aber noch zahlreiche andere, ebenfalls sehr wichtige Ziele. Besondere Bedeutung hat etwa das Ziel 2, 30 % der heute bereits degradierten Ökosysteme wiederherzustellen (siehe S. 6). 

Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge sind die Ökosysteme auf 40 % der Landesfläche der Erde beeinträchtigt, 30 % davon wären also 12 % weltweit. Auf dem Meer ist der Anteil geringer. Weltweit auf 12 % der Landesfläche die Ökosysteme, ihre Artenvielfalt und damit ihre Funktionen und Ökosystemleistungen wiederherzustellen – das ist ein ambitiöses Ziel, von dessen Umsetzung Natur, Gesellschaft und Wirtschaft stark profitieren werden.

Biodiversität überall verankern

Ein weiteres wichtiges Ziel ist Nr. 1: Der Verlust von Gebieten, die für die Biodiversität wichtig sind, ist auf nahezu Null zu senken. Ziel 14 wiederum betrifft alle Bereiche der Politik und Gesellschaft – es fordert die volle Integration der Biodiversität und ihrer vielseitigen Werte in politische Strategien, gesetzliche Regelungen, Planungen, Armutsreduktionsstrategien sowie weitere politische Prozesse und insbesondere auch in die volkswirtschaftliche Buchhaltung. Es zielt damit auf den komplexen transformativen Wandel hin, um die Biodiversität in allen Bereichen menschlichen Wirkens und Wirtschaftens zu integrieren. Auch die Ziele 9 bis 12, welche die Biodiversität in unterschiedlichen Sektoren inklusive der Landwirtschaft ansprechen, hängen mit dem transformativen Wandel zusammen. 

Das Ziel ist nicht eine schöne Statistik, sondern die Verbesserung des Zustands der Biodiversität.

Angesichts des grossen Handlungsbedarfs sind die verabschiedeten Ziele zum transformativen Wandel noch nicht ausreichend. Trotzdem gilt es jetzt, den beschlossenen GBF so gut wie möglich umzusetzen, anstatt verpassten Chancen nachzutrauern. 

Zur Überprüfung der Umsetzung wurde zusammen mit den Zielen ein einheitliches Indikatorensystem beschlossen, mit dem die Länder über ihre Zielerreichung berichten müssen. Dieses ist zwar noch lückenhaft – und doch ist es eine deutliche Verbesserung. Denn bisher erfolgte die Berichterstattung der Vertragsstaaten weitgehend als Lauftext, was eine Zielüberwachung erschwerte. 

COP Justin Trudeau

Auch neoliberale Politiker wie der kanadische Premierminister Justin Trudeau haben inzwischen die Biodiversitätskrise als grosse Gefahr für Wirtschaft und Gesellschaft erkannt.

Umsetzung entscheidet alles

Die Schweiz hat damals nach der Konferenz in Nagoya 2010 zu lange gezögert und die Ziele 2020 bei Weitem verfehlt. Nur bei einem Fünftel ist die Schweiz auf Kurs; bei 35 % der Ziele gibt es aber gar keine Fortschritte. Man muss im Rückblick feststellen, dass kein ernsthafter Versuch unternommen wurde, die Ziele vollumfänglich zu erreichen. Bei den Schutzgebieten hätte die Schweiz bis Ende 2020 einen Anteil von 17 % an der Landesfläche ausweisen müssen.

Doch in den zehn Jahren seit dem Bundesratsbeschluss zur Biodiversitätsstrategie hat der Flächenanteil nur gerade um 0,2 Prozentpunkte zugenommen, als 2017 die nationalen Biotope revidiert wurden. Die Schweiz steht damit bei rund 10 % Schutzgebieten. Dass die nationale Statistik frisiert wurde, indem ein Teil der Biodiversitätsförderflächen gemäss landwirtschaftlicher Direktzahlungsverordnung dazugezählt wird, ist dabei wenig hilfreich und widerspricht den internationalen Kriterien; auch die EU zählt analoge Flächen, die Agrar-Umwelt-Klima-Massnahmen, nicht zu den Schutzgebieten.

Aber selbst bei den rund 10 % Schutzgebieten, welche die Schweiz tatsächlich ausgewiesen hat, bestehen grosse qualitative Mängel. Viele der Biotope von nationaler Bedeutung müssten saniert und besser gepflegt werden, in vielen Wasser- und Zugvogelreservaten müssten die Besucherlenkung verbessert oder andere Massnahmen zugunsten der Biodiversität umgesetzt werden. Das Ziel ist nicht eine schöne Statistik, in welcher eine gewisse Prozentzahl erreicht wird, sondern eine wirksame Verbesserung des Zustands der Bio­diversität.

Bedeutung für die Schweiz

Die Biodiversität kann sich kein zweites verlorenes Jahrzehnt leisten. Deshalb wird BirdLife Schweiz analysieren, welche konkreten Schritte nun für eine zielführende Umsetzung des Kunming-Montreal-GBF in der Schweiz notwendig sind.

Dr. Raffael Ayé ist Geschäftsführer von BirdLife Schweiz und vertrat in der Schweizer Verhandlungsdelegation die Umweltallianz.

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