Auf Kosten von uns allen

Blockierte Agrarpolitik. Im März hat das Parlament die Weiterentwicklung der Agrarpolitik sistiert. Damit konnte die Agrarlobby erneut verhindern, dass der Schutz von Allgemeingütern wie sauberem Trinkwasser oder einer intakten Biodiversität endlich mehr Gewicht erhält. In dieser enttäuschenden Situation bieten die beiden Pestizid-Initiativen wenigstens die Chance, einen Teil der bestehenden Probleme anzugehen. BirdLife Schweiz hat für beide Initiativen, die am 13. Juni zur Abstimmung kommen, die Ja-Parolen herausgegeben.


Patrik Peyer

04.05.2021, Ornis 2/21

Saubere Luft, sauberes Trinkwasser, eine intakte Biodiversität, attraktive Kulturlandschaften: Von diesen öffentlichen Gütern profitieren alle, und von ihrer Nutzung kann niemand ausgeschlossen werden. Es ist eine klare Aufgabe der Politik, die Nutzung und den Schutz dieser Ressourcen zu regeln und zu gewährleisten. Ohne Regulativ werden solche Allgemeingüter übernutzt oder gar irreversibel zerstört – den Preis zahlt die Allgemeinheit.

Zielführende Rahmenbedingungen sind auch in der Landwirtschaft vonnöten, die selber auf intakte natürliche Ressourcen angewiesen ist. Bisher hinkte die Agrarpolitik den Herausforderungen hinterher: Schon ab dem 2. Weltkrieg führte der stets wachsende Einsatz von Maschinen, Dünger und Pestiziden zu massiven Beeinträchtigungen der Umwelt und der Artenvielfalt, während die Agrarpolitik lange einseitig auf eine maximale Produktion ausgerichtet blieb. Verwerfungen an den Agrarmärkten und stets steigende Agrarausgaben waren weitere Erscheinungen der Subventionspolitik. Das Ziel der Agrar­reform in den 1990er-Jahren war es dann – auch unter dem Druck der WTO –, die Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten und die Direktzahlungen an Leistungen für die Allgemeinheit zu koppeln. Das Zauberwort: eine multifunktionale Landwirtschaft, die nicht nur Lebensmittel, sondern gleichzeitig auch intakte Landschaften und Biodiversität produzieren sollte.

Reformen bleiben stecken

Die notwendige Weiterentwicklung dieser Reform blieb allerdings unter dem Druck der Agrarlobby schon nach kurzer Zeit stecken. Vom Bund aufgegleiste Reformschritte wurden jedes Mal vehement bekämpft, womit nach ellenlangen Diskussionen stets wenig übrig blieb. Auch heute sind wir wieder soweit: Die aktuell vorliegende Weiterentwicklung der Agrarpolitik ab 2022 (AP 22+) ist ebenfalls am Widerstand der Agrarlobby gescheitert. Und das, obwohl auch sie nur ein kleiner Schritt in Richtung Nachhaltigkeit gewesen wäre (siehe Ornis 2/20). Vorgesehen waren eine Reduktion der Nährstoffüberschüsse, eine Senkung der negativen Auswirkungen durch Pestizide und Fortschritte bei der Förderung der Biodiversität. In Anbetracht der grossen Herausforderungen wäre die Weiterentwicklung der AP 22+ noch viel zu zögerlich ausgefallen.

Aber eben, es kam noch schlimmer: Das Parlament hat sich Mitte März unter dem Druck der Agrarlobby dazu verleiten lassen, die AP 22+ ganz zu sistieren. Damit dürften die massiven Probleme in Sachen Ökologie, aber z.B. auch der sozialen Sicherheit auf den Betrieben, während Jahren ungelöst bleiben. Auch die vom Bund selbst gesetzten Ziele werden so mitnichten erreicht.

Fehlanreize

Derweil zeigen alle Auswertungen: Die bisherigen Bestrebungen des Bundes, die Biodiversität per Agrarpolitik zu fördern, reichen klar nicht aus. Mehr noch, positive Effekte der Instrumente werden durch Fehlanreize und biodiversitätsschädigende Subventionen wieder mehrfach zunichte gemacht. Analysen des Bundes zeigen denn auch, dass die Listen der gefährdeten Arten und Lebensräume in den landwirtschaftlich genutzten Gebieten besonders lang sind und dass selbst die national bedeutenden Lebensräume der Trockenwiesen und -weiden weiter an Fläche und an Qualität einbüssen, obwohl sie eigentlich geschützt wären.

Wissenschaftliche Studien bestätigen überdies, dass die Intensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung auch vor dem Berggebiet nicht halt macht. Dort wirken sich zwei Tendenzen besonders verheerend aus: einerseits weitere Produktionssteigerungen in den Gunstlagen dank Dünger, Bewässerung und Futterzukauf, andererseits die Nutzungsaufgabe in schlechten Lagen, die der Biodiversität auch nicht förderlich ist. Landesweit haben der immense Nährstoffüberschuss und der verbreitete Einsatz von Pestiziden flächendeckend dramatische Auswirkungen auf Natur und Umwelt, insbesondere auch auf Gewässer, Wälder und sensible Lebensräume wie Hoch- und Flachmoore.

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Allein auf weiter Flur: Insektenfresser wie die Dorngrasmücke haben in der heutigen Agrarlandschaft schlechte Karten. © Mathias Schäf

 


Die Pestizid-Initiativen

In Anbetracht dieses eindeutigen Fazits sowohl der Verwaltung als auch der Wissenschaft haben zwei private Komitees die Initiative für sauberes Trinkwasser (Trinkwasserinitiative TWI) und die Initiative für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide lanciert (siehe Kasten).

Die Frage ist, ob die beiden Initiativen beim Stimmvolk eine Chance haben. BirdLife Schweiz hatte sich aus dieser Sorge heraus für einen Gegenvorschlag eingesetzt, um eine möglichst schnelle Lösung der drängenden Umweltprobleme der Landwirtschaft herbeizuführen. Es waren bäuerliche Kreise, die einen Gegenvorschlag erfolgreich verhinderten.

Einen inoffiziellen Gegenvorschlag angestossen hat der Ständerat im Jahr 2019, nachdem sich der Bundesrat nicht dazu entschliessen konnte, den beiden Initiativen einen Gegenvorschlag entgegenzustellen. Im Rahmen der parlamentarischen Initiative «Das Risiko beim Einsatz von Pestiziden reduzieren» sollte ein verbindlicher Absenkpfad für das Risiko beim Einsatz von Pestiziden ins Gesetz geschrieben werden. Beantragt wurde zudem, die Stickstoff- und Phosphorverluste bis 2025 um 10 Prozent und bis 2030 um 20 Prozent zu senken. Aber auch hier ist es der Agrarlobby gelungen, dem Passus die Zähne zu ziehen. Geblieben ist schliesslich, dass Stickstoff- und Phosphorverluste bis 2030 «angemessen» reduziert werden. «Angemessen» ist ein juristisch äusserst dehnbarer Begriff; mit dieser Formulierung sind die notwendigen Fortschritte nicht zu erwarten.

Mit der Bekämpfung jeglicher Bemühungen, die Umweltprobleme der Landwirtschaft zu lösen, sägt die Bauernlobby am Ast, auf dem nicht nur die Landwirtschaft sitzt: Von lebendigen Böden, sauberem Trinkwasser, sauberen Gewässern und einer intakten Natur profitieren alle. Überdies hat der Mensch eine ethische Verantwortung gegenüber der Natur.

Angstmacherei unbegründet

Nach Jahren des Verhandelns für eine zukunftsfähige Landwirtschaftspolitik und einer erneut gescheiterten AP 22+ bieten nun die beiden Pestizid-Initiativen die konkrete Chance, in der Agrarpolitik endlich einen Schritt weiterzukommen. BirdLife Schweiz empfiehlt daher, zweimal Ja zu stimmen.

Die Initiativen nehmen sehr wichtige Anliegen auf. Gerade die empfindliche aquatische Fauna leidet enorm unter der Belastung der Gewässer durch Pestizide. Und die Nährstoffüberschüsse sind womöglich das grösste Problem für die terrestrische Biodiversität in der Schweiz. Erfahrungsgemäss lässt der Gesetzgeber bei der Umsetzung von Initiativen Augenmass walten, die Angstmacherei der Gegner ist also unbegründet.

 

Patrik Peyer ist Projektleiter Landwirtschaft bei BirdLife Schweiz.

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